Elektrifizierung bis 1945

1. Elektrifizierung in Deutschland bis 1945

1.1 Elektrifizierung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

1.1.1 Elektrotechnische Voraussetzungen
 
Stephenson (1781 bis 1848), der große Konstrukteur und Baumeister von Dampflokomotiven und Eisenbahnstrecken prophezeite in seinen letzten Lebensjahren, dass eines Tages die Eisenbahn elektrische betrieben würde. (18) In jener Zeit war an einen wirtschaftlichen Einsatz von elektrischen Schienenfahrzeugen noch nicht zu denken. 1840 lief zwar in der Werkstatt des Deutschen Philipp Wagner eine elektrische Miniatur-Lokomotive, aber den Auftrag des deutschen Bundes für eine große elektrische Lokomotive konnte er nicht erfüllen. Diese zu konstruieren ist 1842 dem Schotten Robert Davidson gelungen. Seine batteriegespeiste Lokomotive fuhr auf der Strecke Glasgow – Edingburgh. (19) Solange die Stromversorgung aus Batterien erfolgen musste, beherrschte unbestritten die Dampflok die Schienen.
 
Dafür setzte sich die Elektrizität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst in anderen Bereichen durch, die auch bei der Eisenbahn genutzt werden konnten, wie z. B. der elektrische Telegraph und die Beleuchtung der großen Bahnhöfe mittels elektrischer Lampen. (20)
 
Bei der Absicht, Strom für den Antrieb von Maschinen oder Schienenfahrzeugen zu nutzen, kamen die Techniker nicht so recht voran. Die bekannten batteriegespeisten Motoren waren wirtschaftlich nicht einsetzbar. Dazu hatten die galvanischen Batterien zu geringe Leistungen und die „Elektro-Motoren“ einen schlechten Wirkungsgrad. In die Motoren waren nach Stahlmagnete eingebaut, die mit der Zeit ihren Magnetismus verloren und ausgewechselt werden mussten. (21)
 
1866 kamen gleich mehrere Techniker auf die Idee, die Stahlmagnete durch Elektromagnete zu ersetzen. Einer von ihnen war Werner Siemens. Dabei entdeckte er das „dynamoelektrische Prinzip“ mit einer Versuchsanordnung, „...bei der eine Maschine mit Doppel-T-Anker statt der Stahlmagnete einen Elektromagneten besaß. Die Maschine wurde von einer Batterie gespeist, lief also als Motor, indem Batterie, Elektromagnet und Anker zu einem Stromkreis hintereinander geschaltet waren. Der Batteriestrom erregte den Elektromagneten und trat dann über den geteilten Schleifring in die Ankerleitung ein, wo er das Drehmoment des Ankers erzeugte. ...Auch nach dem Stillsetzen der Maschine blieb im Eisenkern des Elektromagneten ein schwacher, sogenannter remanenter Magnetismus zurück.“ (22) Wie sich bald herausstellte, brauchte auch die erste starke Magnetisierung zur Selbsterregung des Eisenkerns nicht erfolgen, da der remanente Magnetismus zur Selbsterregung der Maschine ausreichte. Das „dynamoelektrische Prinzip“ stellte also die Verbindung von zwei Erkenntnissen des Versuchs von Werner Siemens dar, „....dass nämlich eine „dynamoelektrische“ Maschine ihre Elektromagneten selbst speisen könne und dass zur Einleitung der Selbsterregung der überall vorhandene remanente Magnetismus genüge, ...“. (Zitate: Siemens, Georg: Der Weg der Elektrotechnik, Band 1, Seite 93 ff) (23)
 
Werner Siemens erkannte, dass die Anwendung seiner Entdeckung eine technische Umwälzung einleiten könnte, denn damit war es möglich, elektrischen Strom von unbegrenzter Stärke überall da billig zu rzeugen, wo er für Arbeitszwecke gebraucht würde. Seine Maschine war sowohl als Generator , also stromerzeugend, wie auch als Motor, also stromverbrauchend, einzusetzen. Damit war die Grundlage der Starkstromtechnik gelegt. (24)
 
Schon bald machte sich Werner Siemens Gedanken, die elektrische Kraft bei der Fortbewegung zu nutzen. (25) Leider wurde der Siegeszug der elektrischen Maschinen zunächst durch technische Schwierigkeiten stark gebremst. Bei längerem Betrieb erhitzte sich der drehbare Anker so stark, dass eine Zerstörung der Maschine möglich war. Erst als der Anker nicht mehr aus einem Stück, sondern aus einzelnen voneinander isolierten Blechen, den bis heute verwendeten Dynamoblechen, zusammengesetzt wurde, konnte die Erhitzung gehemmt werden. Bis 1878 waren die Versuche von Fachleuten im Bereich der Starkstromtechnik ohne nennenswerte wirtschaftliche Anwendungen geblieben. Das änderte sich in den folgenden Jahren. Zunächst machten die Techniker Fortschritt in Bau und Betrieb von Beleuchtungsanlagen für Plätze, Bahnhöfe und Fabriken. 1879 schlug dann die Geburtsstunde der ersten elektrischen Eisenbahn. (26)
 
1.1.2       Erste elektrische Eisenbahn der Welt
 
Im Jahre 1879 lief auf der Berliner Gewerbeausstellung auf einem etwa 300 Meter langen Gleisoval die erste elektrische Lokomotive der Welt, bebaut von der Firma Siemens & Halske. Die Bahn hatte eine Spurweite von 50 cm. Darauf zog die kleine Lokomotive bis zu sechs offene Wagen hinter sich her. Elektrifiziert war die Stecke über ein zwischen den Schienen stehend befestigtes Flacheisen, welches mit 130 Volt Gleichspannung gespeist wurde. (27) Die Mittelschiene zur Stromzuführung fand nur bei dieser ersten elektrischen Eisenbahn Anwendung, da Werner Siemens in den ersten Entwürfen der Lokomotive auf sie zwei Friktionsräder wirken lassen wollte. Die Laufräder waren ohne Antrieb geplant. (28) Zur Stromzuführung dienten die beiden Schienen. Bei trockenem Wetter war die Isolation zwischen Hin- und Rückleiter ausreichen. Bei Regen musste aus Sicherheitsgründen der Betrieb eingestellt werden. Die Stromaufnahme der Lokomotive aus der Mittelschiene erfolgte über zwei Rollen, später durch einen Schleifbesen. Den Strom lieferte eine in der Nähe untergebrachte Dampfmaschine mit angeschlossenem Dynamo. Bei einer Motorleistung von ca. 2,2 kW (3 PS) entwickelte die elektrische Lokomotive eine Zugkraft bis zu 75 kg. Immerhin konnte damit in vier Monaten mehr als 86 000 Menschen über das Gleisoval gezogen werden. (29)
 
Wirtschaftlich erhoffte sich die Firma Siemens & Halske, solche elektrischen Bahnen an Grubenbesitzer verkaufen zu können. Deshalb hatten sie auch die geringe Spurweite von 50 cm gewählt. (30)
 
1.1.3 Anfänge der Elektrifizierung im Deutschen Kaiserreich
 
Die nächsten drei Jahrzehnte nach Erscheinen der ersten Elektrolokomotive brachten zahlreiche Verbesserungen und Neuentwicklungen im Bereich der elektrischen Bahnen. Die Firmen experimentierten mit neuen Stromarten, Stromabnehmern, Motoren, Antrieben usw. und fanden dabei immer leistungsfähigere Systeme. Ich werde im folgenden Abschnitt die Hauptlinie der Entwicklung hin zu heute noch bei der Deutschen Bundesbahn angewandten Lösungen darstellen. Die von mir nicht weiterverfolgten technischen Möglichkeiten, insbesondere die angesprochenen Stromsysteme fanden oder finden durchaus weiter ihre Anwendung bei ausländischen Eisenbahnen, Straßen- oder S-Bahnen.
 
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es für elektrische Bahnen nur geringe Aufträge. Die neue Traktionsart hatte bis zu ihrer breiten Anwendung noch zahlreiche Probleme zu überwinden. So war die Stromzufuhr über Bürsten, Schleifschuhe oder Rollen aus den Schienen oder über der Erde angebrachte Zuleitungen nicht optimal gelöst.
 
Von der Stromzufuhr über die Schienen gingen die Konstrukteure schnell ab, da an Straßenüberwegen Mensch und Tier in Berührung mit den beiden Schienen kommen konnten und dann einen sehr unangenehmen elektrischen Schlag bekamen. Außerdem gab es bei Regenwetter Energieverluste durch Erdschluss. Die Firmen legten daher die stromführenden Bauteile über die Fahrzeuge, so dass niemand unabsichtlich daran stoßen konnte.
 
1980 setzte der Siemens-Ingenieur Walter Reichel den von ihm erfundenen Bügelstromabnehmer erstmals auf der „Kadettenbahn“ bei Berlin erfolgreich ein, die zuvor auf Oberleitungsbetrieb umgestellt worden war. (31) Bügelstrom-abnehmer und Oberleitung setzten sich in der Folgezeit durch und finden in verbesserter Bauweise bis heute bei der Bahn ihre Anwendung.
 
Als zentrales Problem kristallisierte sich schon damals die Kraftübertragung vom Motor auf die Antriebsachsen bei elektrischen Triebfahrzeugen heraus. Der Motor muss möglichst vollständig abgefedert sein, damit die dynamischen Stöße und Bewegungen der Antriebsachsen, die durch Schienenstöße und Weichen bedingt sind, nicht auf den Motor weitergegeben werden. Sonst kann es zu Zerstörungen einzelner Bauteile kommen. Bei den geringen Geschwindigkeiten , Gewichten und Antriebskräften der ersten elektrischen Bahnen kam zunächst der Tatzlagerantrieb zur Anwendung. Dabei lagert der Motor je zur Hälfte auf der Antriebsachse und im Rahmen des Fahrzeugs. Die Kraftübertragung geschieht über Zahnräder, die auf den parallel liegenden Motor- und Antriebsachsen angebracht sind. Statt der Zahnräder wurden anfangs auch Kettenantriebe in Deutschland genutzt. Das Motorgewicht ist bei dem Tatzlagerantrieb nur zur Hälfte abgefedert. (32)
 
Um das Jahr 1890 waren die technischen Probleme der elektrischen Bahnen soweit gelöst, dass die Umstellung der Pferdebahnen auf elektrischen Betrieb wirtschaftlich interessant wurde. Die Stromversorgung war durch die aufkommenden Energie-Zentralen in den Städte gesichert. In den folgenden Jahren kam es zu erheblichen Investitionen im elektrischen Nahverkehr. Bis 1903 hatten alle größeren Städte in Deutschland elektrische Straßenbahnen. (33)
 
Nachdem das Straßenbahnnetz praktisch ausgebaut war, versuchte die Elektroindustrie die sinkende Auftragslage durch die Elektrifizierung von Vorortbahnen mit größeren Streckenlängen zu verbessern. (34) Um die Jahrhundertwende war auch die Elektrifizierung von Vollbahnen technisch möglich. (35) Neben dem Gleichstrom standen dafür zwei weitere Stromsysteme zur Auswahl: der Einphasenwechselstrom und der Drehstrom. Alle drei Systeme hatten Vor- und nachteile. Um eine Entscheidung auf dem Gebiet der Fernbahnelektrifizierung zu treffen, waren noch zahlreiche Versuche erforderlich. (36)
 
2.1.4 Deutsche Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen
 
Um die Entwicklung voranzutreiben arbeiteten von der Jahrhundertwende an – trotz Konkurrenzkampf untereinander – die Firmen AEG (Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft) und Siemens & Halske in der „Deutschen Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen“ zusammen. (37) Die Firmen erhofften sich davon eine dominierende Stellung auf dem Sektor, um die nationale und internationale Konkurrenz auf Distanz zu halten. Zudem ließ die Kapitalgröße der Projekte eine Zusammenarbeit vernünftig erscheinen. Gemeinsam konnten die Firmen gegenüber den Behörden besser auftreten. Um die Überlegenheit und Machbarkeit der neuen Antriebtechnik für Fernstrecken zu beweisen, beschloss die Studiengesellschaft eine Demonstrationsobjekt zu errichten. Bei der Elektrifizierung von Pferdebahnen hatten es die Firmen mit leinen Aktiengesellschaften und Stadtverwaltungen zu tun. Von dem Schnellbahnprojekt mussten die Ministerien, Militärs und Eisenbahnbehörden überzeugt werden. (38) Die Studiengesellschaft richtete auf der Militäreisenbahn zwischen Marienfelde und Zossen in der Nähe von Berlin eine Versuchsstrecke ein, auf der größtmögliche Geschwindigkeiten erzielt werden sollten.
 
Damals war die Entwicklung der Drehstromtechnik so weit fortgeschritten, dass ihr Einsatz am erfolgversprechensten war. So elektrifizierte die Studiengesellschaft die Strecke mit 10.000 Volt Drehstrom bei 55 Perioden, der im Fahrzeug auf 650 Volt umgeformt wurde. Die drei Phasen des Drehstroms nachten drei Fahrleitungen entlang der Strecke nötig. Sie verliefen seitlich übereinander. Die drei Drähte hatten untereinander einen relativ großen Abstand, um bei der hohen Spannung Stromüberschläge zu vermeiden. Das Anbringen der Fahrleitung bedingte bei den Versuchstriebwagen hohe Dachstromabnehmer. Trotz des damit verbundnen erhöhten Luftwiderstandes ereichten zwei Fahrzeuge, je eines von der AER und Siemens, im Oktober 1903 Geschwindigkeiten von bis zu 210 km/h. (39) Von Dampflokomotiven wurden diese Geschwindigkeiten nie erreicht. (40)
 
Deutschlands Elektroindustrie war mit diesem Erfolg führend in der Welt. Die Öffentlichkeit war begeistert. Dennoch blieb der erhoffte Einstieg in die Elektrifizierung von Fernbahnen zunächst aus. Die Studiengesellschaft wollte eine völlig neue Strecke von Berlin nach Hamburg bauen. Von den Gegnern dieser Schnellstrecke wurden eine Reihe von Bedenken angemeldet. Sie betrafen die Bereiche Sicherheit, Technik, Rentabilität und Einnahmeverluste dr Reichsbahn durch die geplante Konkurrenzstrecke. Diese Probleme hätten sehr wahrscheinlich in Zusammenarbeit der Firmen und Behörden gelöst werden können. So wurden dann auch andere, politische und militärische Bedenken für die ablehnende Haltung der Behörden ausschlaggebend.
 
Da die Gewinne der Reichbahn den Flottenbau und die gesamte Aufrüstung mitfinanzierten, sollte jedes Risiko von Einnahmeverlusten verhindert werden. Noch wichtiger für die Ablehnung waren die Bedenken der Militärs, die im Kaiserreich alle Behörden entscheidend beeinflussten. Sie hatten Angst vor feindlichen Sabotagen im Inland. Durch Zerstörungen an den elektrischen Einrichtungen und Fahrdrähten hätten im Ernstfall eine rasche Mobilmachung behindert werden können. (41) Die Militärs waren nicht technikfeindlich eingestellt, wie die Entscheidung gegen die Elektrifizierung vermuten lässt, sondern im Gegenteil allen technischen Neuerungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Schnellfahrversuche hatten schließlich auch aus diesem Grunde auf der Militäreisenbahn stattgefunden. (42) Im Bau von elektrischen Schnellbahnen sahen sie für sich keinen praktischen Nutzen sondern erhebliche Risiken im Kriegsfall. (43)
 
Trotz aller Anstrengungen der Großindustrie und deren enge Verzahnung mit den Behörden konnte in diesem Fall der technische Fortschritt durch Großmachtpolitik und Militärinteressen lange Zeit gestoppt werden. (44)
 
In der langen Phase der Auseinandersetzung um die Genehmigung der Schnellbahnstrecke Berlin – Hamburg war die technische Entwicklung schnell weiter gegangen. Auf kleinen Strecken wurden die verschiedenen Stromarten weiter auf ihre Eignung für den Eisenbahnbetrieb untersucht. Dabei machten die Versuche mit einphasigem Wechselstrom die besten Fortschritte.
 
Nachdem der Elektroindustrie klar war, dass ihr Schnellbahnprojekt nicht durchzusetzen war, versuchten sie sich ohne Gesichtsverlust aus ihrem Vorhaben zurückzuziehen. Die Behörden mussten unter dem Druck der Öffentlichkeit der Studiengesellschaft wenigstens ein kleines Zugeständnis machen. Sie genehmigten die Elektrifizierung der Staatsbahnstrecke Dessau – Bitterfeld mit einphasigem Wechselstrom. (45)
 
Die Schnellfahrversuche hatten so zwar keine praktischen Folgen in Form einer nach diesem Prinzip erbauten Strecke, doch wuchs die Überzeugung, dass die Zukunft den elektrischen Triebfahrzeugen gehören würde. (46)
 
Bevor ich auf die Strecke Dessau – Bitterfeld zurück komme, muss ich, um die technische Entwicklung bei den Stromsystemen darzustellen, noch einmal in die ersten Jahre nach 1900 zurück gehen. (47)
 
1.1.5 Entwicklung bei den Stromsystemen
 
Wie schon beschrieben, wurden die Schnellfahrversuche zwischen Marienfelds und Zossen mit Drehstrom durchgeführt. Der Betrieb der Strecke zeigte, das hohe Geschwindigkeiten mit elektrischen Triebfahrzeugen zu erreichen waren. Es wurden aber auch die Mängel des Drehstromssystems deutlich. Zwar hätten die Techniker die Zahl der Fahrleitungen unter Benutzung der Schienen von drei auf zwei Freileitungen reduzieren können, doch war damit der Kupferverbrauch für de zweipolige Oberleitung gegenüber den beiden anderen Systemen immer noch hoch. (48) Zu den weiteren technischen Bedenken zählten unter anderem die kurzen Mastabstände durch das hohe Gewicht der Fahrleitungen, das Drahtgewirr in den Bahnhöfen und die hohen Energieverluste der Drehstrommotoren. (49)
 
Der bei den Straßenbahnen schon bewährte Gleichstrom von 500 Volt reichte für höhere Anforderungen bei Hauptbahnen nicht aus. Eine Elektrolokomotive mit ihren gegenüber einem Straßenbahnwagen höheren Leistungsanforderungen hätten zu enormen Spannungsverlusten in der Oberleitung geführt. Wollte die Industrie den Gleichstrom für größere Bahnen verwendet, so musste die Spannung erhöht werden. Dabei tauchte allerdings die Gefahr von Spannungsüberschlägen im Motor auf. Da Gleichstrom im Gegensatz zum Wechselstrom nicht zu transformieren ist, mussten die Techniker Möglichkeiten finden, den Motor für höhere Spannungen tauglich zu machen. Dies gelang ihnen durch Reihenschaltung der Fahrmotoren und konstruktive Veränderungen der Bauteile. Die 1905 gebaute „Rheinuferbahn“ von Köln nach Bonn konnte mit 1000 Volt Gleichstrom betrieben werden. Im Ausland gelang es in den nächsten Jahren, die Spannung bis 3000 Volt zu erhöhen. Damit hätte ein großes Eisenbahnnetz durchaus betrieben werden können.
 
Das Gleichstromsystem hatte jedoch den Nachteil, dass für die Stromzufuhr vom Kraftwerk zum Fahrdraht zahlreiche Umformwerke mit Bedienungspersonal entlang der Strecke benötigt wurden. Hohe Bau- und Betriebskosten waren die Folge. (50)
 
Inzwischen versuchten die Elektrotechniker, einen Motor für einfachen einphasigen Wechselstrom zu bauen. Bei den hohen Spannungen und Stromstärken, die für den Bahnbetrieb erforderlich warn, traten hauptsächlich zwei Probleme auf. Einmal führten im Motor entstehenden Wirbelströme zu hohen Energieverlusten in Form von Wärme, zum anderen gab es ein „Feuerwerk“ an den Schleifbürsten des Kommutators (Stromwender). Durch Aufbau des Motorständers aus einem Blechpaket und durch Installation von zusätzlichen Magneten, die gegen die Spulenfelder arbeiten, konnten die Elektrotechniker den Wechselstrommotor zwar verbessern, aber für die Frequenz von 50 Hz, der sich inzwischen ausbreitenden landesweiten Stromversorgung war ein brauchbarer elektrischer Bahnmotor nicht zu entwickeln. Die von Wechselfeldern im Motor erzeugte unerwünschte Spannungen wächst mit der Anzahl der Perioden pro Minute. Die Frequenz musste daher reduziert werden. Bei der Hälfe, besser noch einem Drittel von 50 Perioden stand der Anwendung von einphasigen Wechselstrom im Motorbau nichts mehr im Wege. Gegenüber dem Drehstrom war beim einphasigen Wechselstrom nur noch ein Fahrdraht erforderlich. In ihm konnte die Spannung unbedenklich auf 15.000 Volt erhöht werden, denn anders als beim Gleichstrom lässt sich die Spannung in der Lokomotive durch einen Transformator auf 300 bis 400 Volt für die Motoren reduzieren. Durch die hohe Fahrdrahtspannung war der Spannungsverlust auf längeren Strecken gegenüber dem Gleichstrombetrieb geringer. (51) Unterwerke waren nur noch alle 25 Kilometer entlang der elektrifizierten Strecke erforderlich. (52)
 
Den Vorteil standen auch bei diesem Stromsystem einige Nachteile entgegen. Durch den komplizierten Aufbau der Motoren erhöhen sich deren Größe und Gewicht gegenüber Gleichstrom-Motoren mit gleicher Leistung. (53) Die benötigten Transformatoren machen die Lokomotiven schwer und teuer. Durch die Frequenz von 16 2/3 Hz musste für die Eisenbahn eine eigene Stromversorgung unabhängig von der Landesversorgung aufgebaut werden. (54)
 
Ab 1905 bewährte sich das einphasige Wechselstromsystem bei der Lokalahn Murnau – Oberammergau und der Hamburger Vorortbahn so gut, dass die erste Fernbahn damit elektrifiziert werden sollte. (55) Damit komme ich auf die Strecke Dessau – Bitterfeld zurück.
 
1.1.6 Denkschrift zur ersten preußischen Fernbahnstrecke
 
Trotz der Erfolge bei den Schnellfahrversuchen und der Fähigkeit, technische Probleme zu meistern, war es der deutschen Elektroindustrie nicht gelungen, die Fernbahnelektrifizierung gegen den von Behörden und Militär schnell durchzusetzen. Ihr Vorhaben war auch bei Fachleuten sehr umstritten, die 1907 in verschiedenen Gutachten zum elektrischen Eisenbahnbetrieb zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Sprach der eine der Elektrifizierung großen Nutzen zu, so lehnte sie ein anderer als vollkommen unwirtschaftlich ab. (56) Aus den schon genannten Gründen entschloss sich Preußen dann doch zur Genehmigung einer Fernbahnstrecke.
 
In der Denkschrift der preußischen Staatsregierung zur Geldbewilligung der Strecke Dessau – Bitterfeld im Jahre 1909 kommen die Erwartungen an die neue Technik deutlich zum Ausdruck. (57) Die wesentlichen Vorteile der elektrischen Zugförderung gegenüber dem Dampfbetrieb erkannte der Staat schon damals, wobei die preußische Staatsregierung dem einphasigen Wechselstrom die größten Zukunftsaussichten einräumte. Aber s wurden auch militärische Bedenken gegen weitere Elektrifizierungsprojekte deutlich.
 
Hier einige Auszüge aus der Denkschrift im Wortlaut:
„Erst in den letzten Jahren ist .... eine neue Betriebsform der elektrischen Zugförderung entwickelt worden, die .... allenthalben als im wesentlichen abschließende Lösung gilt. Sie bedient sich der einfachsten Art des elektrischen Stroms, des sogen. einphasigen Wechselstroms und gestattet, elektrische Leistungen mit hoher Spannung und daher in praktisch fast unbegrenzter Größe auf weite Entfernungen zu übertragen und den Triebfahrzeugen durch eine einfache oberirdische Fahrleitung .... zuzuführen. ..... Gegenüber dem Dampfbetrieb hat die elektrische Zugförderung eine Reihe von Vorzügen, die teils auf wirtschaftlichem, teils auf betrieblichem Gebiet liegen. Als solche sind anzusehen:
Geringes Gewicht der Antriebseinrichtungen, bezogen auf die Einheit der Leistung. Wesentliche Ersparnisse an Brennstoff bei dichter Zugfolge, kurze Abstände der Haltepunkte, schwerem Verkehr und großer Fahrgeschwindigkeit sowie auf Strecken mit starken und langen Steigungen. ...
Geringere Unterhaltungskosten der Triebfahrzeuge. Geringere Aufwendungen für die Fahrmannschaft , da elektrische Triebfahrzeuge nur mit einem Mann besetzt zu werden brauchen. ..... Auch kann die Fahrmannschaft besser ausgenutzt werden, weil Vorbereitungs- und Abschussdienst erheblich kürzer sind. ....
Auch ist es möglich, den Lokomotivbestand wegen der kürzeren Betriebsaufenthalte und Ruhepausen besser auszunutzen. .... Bei Prüfung der Wirtschaftlichkeit des elektrischen Betriebes im Vergleich zu Dampfbetrieb darf nicht außer acht bleiben, dass die Kraftwerke und Leitungen bedeutende Anlagekosten und daher auch einen großen Aufwand an Zinsen und Rücklagen beanspruchen. Daraus folgt, dass ein solcher Betrieb auf Bahnen mit schwachem Verkehr wegen schlechter Ausnutzung der kostspieligen Anlagen dem Dampfbetrieb wirtschaftlich nachstehen, ...“ (58)
 
Die Erwartungen der preußischen Staatsregierung erwiesen sich in diesem Punkten in den nächsten Jahren als richtig. In folgenden Punkten verlief die Entwicklung anders oder brauchte wesentlich länger:
(Man erhoffte die) „.... Rückgewinnung von Arbeit auf Gefällen, womit unter Umständen eine ansehnliche Ersparnis an Brennstoff und wegen Einschränkung an Radbremsung eine wesentliche Verminderung der Abnutzung der Radreifen und Schienen verbunden ist.“ (59) Dies ist erst in den achtziger Jahren nachhaltig gelungen.
„Auch ist es möglich, .... die Anzahl der Lokomotivgattungen einzuschränken, weil die elektrische Ausrüstung bei Güter- und Personenzuglokomotiven die gleiche ist und nur für den Schnellzugdienst besondere Lokomotiven nötig sind.“ Diese Erwartung erfüllte sich zum Teil erst Ende der 30er Jahre. Falsch lag die preußische Staatsregierung bei folgender Prognose:
„Besondere Bedeutung würde der Übergang zu elektrischem Bahnbetrieb in größerem Umfang dadurch gewinnen, dass dann an vielen Stellen elektrische Arbeit u geringem Preis verfügbar wäre, was sehr dazu beitragen würde, Landwirtschaft und Großindustrie zu fördern, der Klein- und Hausindustrie neues Leben zuzuführen und durch Darbietung wohlfeiler, bequemer und gesundheitlich einwandfreier Kraft-, Licht- und Wärmequellen die Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung zu verbessern.“ (60)
 
Der elektrische Bahnbetrieb erlangte keinen großen Umfang. Die Versorgung Deutschlands mit elektrischer Energie erfolgte durch die sich ausbreitende Landesversorgung, die der Elektrifizierung der Eisenahn voranging. Ein Grund für den langsamen Ausbau von elektrifizierten Strecken wird in der Denkschrift angesprochen: Dort heißt es, nachdem die Vorteile der neuen Technik beschrieben wurden: „Würde hiernach weder von technischer, noch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ein Hindernis bestehen, elektrische Zugförderung auf den Linien der preußisch-hessischen Staatsbahnen sogleich in ausgedehntem Maße einzuführen, so bebietet doch deren außerordentliche Bedeutung für die Landesverteidigung eine beträchtliche Zurückhaltung, weil sich noch nicht genau übersehen lässt, in wieweit die neue Betriebsart den militärischen Anforderungen zu genügen vermag. Ein zutreffendes Bild hierüber wird erst auf Grund längerer Erfahrungen und geeigneter Proben zu gewinnen sein. Bis dahin ist sie auf Strecken zu beschränken, die nicht von ausschlaggebender Bedeutung für die Landesverteidigung sind, wobei gleichwohl die Möglichkeit bleiben muss, für militärische Zwecke ohne weiteres auf Dampflokomotiven zurückzugreifen.“ (61)
 
Diese Einschränkungen waren geeignet, einen Teil der Elektrifizierungsvorteile erst gar nicht zum Tragen kommen zu lassen und das elektrische Eisenbahnnetz möglichst klein zu halten. In den Mobilmachungsplänen der Militärs spielte die Eisenbahn eine so entscheidende Rolle, dass jede mögliche Beeinträchtigung durch die noch nicht kriegserprobte elektrische Eisenbahn vermieden werden sollte. (62)
 
1.1.7 Elektrifizierung der Fernbahnstrecke Dessau - Bitterfeld
 
Die Strecke Dessau – Bitterfeld mit einer Länge von 25,56 Kilometern war nur als Teilstück einer elektrifizierten Netzes in Mitteldeutschland geplant, welches die Städte Magdeburg – Leipzig und Leipzig – Halle verbinden sollte. Neben dieser Flachlandstrecke sollte in Schlesien der elektrische Betrieb zwischen Lauban und Königszelt erprobt werden. Nach dem damals angewandten Prinzip wurden auch die Strecken der Deutschen Bundesbahn elektrifiziert.
 
Das benötigte bahneigene Kraftwerk für die mitteldeutsche Strecke entstand fünf Kilometer von Bitterfeld entfernt in einem Braunkohlerevier. Die Dynamos lieferten einphasigen Wechselstrom von 3.000 Volt bei 16 2/3 Perioden, der auf 60.000 Volt für die Fernleitung umgeformt wurde. An der Eisenbahnstrecke bei Bitterfeld entstand ein Unterwerk, das den Strom auf 15.000 Volt herunter transformierte, der dann direkt in den Fahrdraht eingespeist werden konnte. Etwa alle 25 Kilometer entlang der Strecke waren weitere Unterwerke geplant. (63) Das ganze Stromversorgungssystem war in sich geschlossen ohne Verbindung mit der Landsversorgung.
 
1.1.8 Elektrifizierungsabkommen von 1912
 
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Elektrifizierung von Vollbahnstrecken durch die alles in allem befriedigenden Ergebnisse der elektrisch beriebenen Strecken einen keinen Aufschwung. Trotz Widerständen von Militärs und Regierungsmitgliedern konnten in Bayern noch Strecken unter Draht genommen werden. Die Vorteile der neuen Traktionsart waren auf Gebirgsstrecken weitab von Kohlevorkommen durch die Ausnutzung von vorhandener Wasserkraft besonders groß.
 
Noch bestanden elektrisch betriebene Eisenbahnen auf weit voneinander entfernten kurzen Strecken in Preußen und Bayern. In der Zukunft war aber mit einem Zusammenwachsen der Teilstücke zu größeren Netzen, wie sie in Mitteldeutschland schon geplant waren, zu rechnen. Also musste, wollten die Eisenbahnverwaltungen die Vorteile der Elektrifizierung voll nutzen, ein gleichartiges System in möglichst allen deutschen Ländern eingeführt werden. Eine Absprache konnte kurz- und langfristig einige Vorteile bringen. Bauteile und Lokomotiven konnten bei größeren Stückzahlen kostengünstiger beschafft werden. Gegenseitige Aushilfe an Material und Bahnstrom würde ermöglicht und später wären Lokomotiv-Langläufe nicht durch Landesgrenzen behindert.
 
1912 kam es dann auch zur „Übereinkunft betreffend der elektrischen Zugförderung“ zwischen Preußen, Bayern und Baden, der sich später andere deutsche Länder, aber auch die Schweiz, Österreich, Norwegen und Schweden angeschlossen. Aus den bis dahin gesammelten Erfahrungen einigten sich die Staaten 1912 auf die Energieversorgung mit einphasigen Wechselstrom von 15.000 Volt bei 16 2/3 Perioden. (64)
 
An die damals geschlossene Übereinkunft halten sich die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik (bis zur Wiedervereinigung) und die anderen genannten Länder bis heute.
 
1.1.9 Erste elektrische Vollbahnlokomotiven
 
Bei den Straßen- und Vorortbahnen hatte sich der Tatzlagerantrieb gut bewährt. Auch auf kleinen Eisenbahnstrecken mit reiner Personenbeförderung reichte er in der Leistungsfähigkeit aus. Wollten die Lokomotivbauer jedoch schwere Güterzüge oder schnelle Personenzüge befördern, so mussten die Motoren stärker und damit größer und schwerer gebaut werden. Da der Tatzlagermotor zur Hälfte ungefederte Masse besaß, befürchteten die Konstrukteure an den Schienenstößen Schäden für den Oberbau und die Lokomotiven. (65) Auch wegen der größeren Schleudergefahr der Achsen bei Einzelachsantrieb wagten die Lokomotivbauer nicht, ihn bei größeren Lokomotiven anzuwenden. (66) Maßgebende Regierungsfachleute forderten Vollbahnlokomotiven mit höchstens zwei Motoren bei einem geschlossenen Antriebsmechanismus. (67)
 
So kam es für die Strecke Dessau – Bitterfeld zur Auslieferung von Lokomotiven, die alle hochliegende Antriebsmaschinen besaßen. Die Kraftübertragung erfolgte über Blindwellen und Kuppelstangen auf die Antriebsachsen. (68) Der Stangenantrieb der Dampflokomotiven wurde bei den ersten elektrischen Vollbahn-Lokomotiven übernommen. (69)
 
Als der Probebetrieb mit den ersten Maschinen dieser Bauart zwischen Dessau und Bitterfeld 1910 aufgenommen wurde, traten ab bestimmten Geschwindigkeiten Schüttelschwingungen auf, die bei einer Siemens-Schuckertmaschine zum Abriss der Triebstangen führte. Die Konstrukteure standen zunächst vor einem Rätsel, waren doch, wenn auch mit Triebwagen, Versuch mit Geschwindigkeiten bis über 200 km/h erfolgreich verlaufen. Bald kamen sie der Ursache auf die Spur. Der Stangenantrieb war nicht nur von den Dampflokomotiven übernommen, sondern auch nach Normen des Dampflokomotivbaus gefertigt. Deren Maßhaltigkeit erwies sich in Verbindung mit Elektromotoren als zu ungenau.
 
Schnell behaupteten daraufhin die Dampflokkonstrukteure, dass elektrische Zugmaschinen für Vollbahnen ungeeignet seien und dass die von den Elektrofirmen geforderte genaue Wartung der Stangenantriebe im rauen Bahnbetrieb nicht durchführbar sei. Doch konnte schnell das Gegenteil bewiesen werden. Für die von Siemens elektrifizierte Strecke Kiruna – Narvik im Norden Skandinaviens lieferten sie Lokomotiven, die noch den Normen der Elektroindustrie mit höchster Genauigkeit gebaut waren. Im schweren Erztransport bei extremen Witterungsbedingungen war der Betrieb der Bahn ab 1914 ein durchschlagender Erfolg. (70)
 
1.1.10 Rückschlag durch der Ersten Weltkrieg
 
Die technische Entwicklung im Elektrolokomotivbau kam nach Kriegsbeginn zum Stillstand. (71) Bestellte Elektrolokomotiven wurden mit erheblichen Verzögerungen ausgeliefert. (72) Auch der Ausbau von elektrischen Bahnen geriet ins Stocken.
 
Besonders folgenreich waren die Auswirkungen des Krieges für die mitteldeutsche Strecke, die im Juni 1914 gerade um 32,7 Kilometer bis nah Leipzig verlängert worden war. Der Bestand an Triebfahrzeugen reichte für einen reinen elektrischen Betrieb nicht aus. Ein Mischbetrieb wollte die Bahnverwaltung nicht aufrechterhalten. Die elektrische Zugförderung wurde auf der gesamten mitteldeutschen Strecke eingestellt. Da die Rüstungsindustrie dringend Kupfer brauchte, demontierte man dort im Laufe der Krieges die Oberleitung.
 
Anders sah es dagegen in Schlesien aus. Die Betriebsverhältnisse ermöglichten eine vollständige Umstellung auf elektrische Zugförderung, weil die Elektrolokomotiven aus Mitteldeutschland einzusetzen waren und somit genügend Fahrzeuge zur Verfügung standen. Die Eisenbahnverwaltung entschloss sich sogar während des Krieges, die Fahrdrähte weiter zu spannen, wozu abgebautes Material aus Mitteldeutschland oder Eisendraht als Ersatzstoff für Kupfer verwendet wurde. Bei Kriegsende umfasste das schlesische Netz 72,5 Kilometer, von denen rund 37 Kilometer im Krieg elektrifiziert worden waren. Dem standen rund 58 Kilometer demontierter Strecke in Mitteldeutschland entgegen. (73)
 
 
1.2 Elektrifizierung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
 
1.2.1 Elektrifizierung und deren Hemmnisse
 
Zwischen den beiden Weltkriegen wuchs das elektrische Eisenbahnnetz in Deutschland nur sehr langsam. Im Vergleich zum Dampfbetrieb blieb die elektrische Zugförderung die Ausnahme. Gründe dafür waren neben den in der Denkschrift zur Strecke Dessau – Bitterfeld schon erwähnten militärischen Bedenken (74) auch solche von wirtschaftlicher und politischer Natur.
 
Im gesamten Eisenbahnwesen Deutschlands trat nach Kriegsende 1918 eine Phase der Stagnation, ja sogar des Rückschritts ein, da die Siegermächte 8.000 Lokomotiven, 280.000 Güter- und 13.000 Personenzugwagen aus Deutschland abzogen. (75)
 
Erst nach 1920 konnte die Deutsche Reichsbahn gegründet werden. Noch im gleichen Jahr erarbeiteten die Planer dort ein Elektrifizierungsprogramm, das die Verbindung der voneinander getrennten elektrischen Netze Bayerns und Mitteldeutschlands vorsah. (76) Zu dieser Zeit wurden 234,5 Kilometer Vollbahnen elektrisch betrieben. Dazu standen 92 Lokomotiven zur Verfügung. (77)
 
Bis 1922 konnte lediglich der Betrieb auf der teilweise demontierten mitteldeutschen Strecke wieder aufgenommen werden. (78) Erst fünf Jahre nach Kriegsende ging die erste neu elektrifizierte Linie zwischen Görlitz und Königszelt in Betrieb. (79)
 
1924 war das Ende für die eben erst gegründete Deutsche Reichsbahn gekommen, denn sie wurde in Deutsche Reichsbahngesellschaft umbenannt und an die Siegermächte mit der Maßgabe verpfändet, jährlich 600 Millionen Mark an Kontributionen aufzubringen. Trotz der Belastungen gelang es der Eisenbahn in den 30er Jahren, die kriegsbedingten Verluste auszugleichen, zu modernisieren und einen zusätzlichen Gewinn zu erzielen. (80)
 
Die Modernisierung durch Elektrifizierung fiel in jenen Jahren sehr bescheiden aus. 1928 wurden 1.515 Kilometer oder 2,81 Prozent des Gesamtnetzes elektrisch betrieben. Die Weltwirtschaftkrise verlangsamte das Elektrifizierungstempo noch weiter. Im Schnitt gingen von 1928 bis 1932 pro Jahr ca. 30 Kilometer neu ans elektrische Netz. (81)
 
Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich am langsamen Tempo der Elektrifizierungsmaßnahmen nichts. Hitler setzte auf die allgemeine Motorisierung und griff die Idee von Autobahnen auf, dessen Bau er in den Aufgabenbereich der Eisenbahn legte. So musste die Deutsche Reichsbahngesellschaft den Aufbau ihrer Konkurrenz selbst mitfinanzieren. Von einer 500 Millionen Mark Anleihe, die sie 1936 aufzunehmen gezwungen war, flossen allein 4000 Millionen Mark in den Autobahnbau. (82) „Es ist sicher, dass die bevorzugte Verwendung aller Mittel für den Autobahnbau bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die Reichbahn im Ausbau ihrer eigenen Organisation und vor allem in der Erneuerung und Erhalt ihres rollenden Materials und Oberbaus stark eingeschränkt hat. Sicher ist auch, dass der Pkw- und Lkw-Verkehr durch die befohlene Motorisierung zu Lasten der Bahn einen gewaltigen Auftrieb erhielt.“ (83)
 
Trotz des langsamen Ausbaus des elektrischen Netzes stand die im Elektrifizierungsplan von 1920 vorgesehene Verbindung des süddeutschen mit dem mitteldeutschen Netz 1939 kurz vor der Vollendung. In weiteren zwei Jahren sollte 1941 elektrische Schnellzüge von München über Nürnberg und Leipzig die Reichshauptstadt Berlin erreichen. (84) Mit der Elektrolokomotive E 19 stand die dafür geeignete Zugmaschine schon 1939 zur Verfügung. (85) Ein Teil der Pläne konnte nach Kriegsbeginn nicht mehr ausgeführt werden.
 
Abschließend möchte ich noch kurz auf eine Versuchsstrecke der Deutschen Reichsbahn eingehen, deren Betriebserfahrungen bei der Elektrifizierung der Deutschen Bundesbahn eine Rolle spielten.
 
Mit der Zunehmenden Umstellung auf elektrischen Betrieb in den 20er und 30er Jahren wuchs das Interesse der deutschen Elektrizitätswirtschaft an der Bahnstromversorgung. Sie hielt ein bahneigenes Netz mit Kraftwerken und Fernleitungen getrennt von der Landesversorgung für wirtschaftlich falsch und wollte aus ihren Kraftwerken die benötigte Energie liefen. 1934 entschloss sich die Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn, einen Versuch mit 50 Hz Landesfrequenz auf der Höllentalbahn im Schwarzwald durchzuführen. (86) Im Juni 1936 wurde der Betrieb auf der steilen Gebirgsstrecke zwischen Freiburg und Neustadt aufgenommen. (87)
 
Erst 1960 fand der Versuchsbetrieb ein Ende, indem die Strecke auf 16 2/3 Hz-Betrieb umgestellt wurde. (88)
 
1.2.2 Technische Entwicklung im Elektrolokomotivbau
 
Die ersten elektrischen Vollbahnlokomotiven in Deutschland hatten nach Art der Dampflok einen Stangenantrieb erhalten, die der aufwendigen Pflege bedurfte.
 
Hier ein Beispiel für eine elektrolokomotive mit Standenantrieb. Die E 32 wurde ab 1924 gebaut.
 
 
Die drei Antriebsachsen sind durch Standen verbunden. Eine Blindwelle (erkennbar am großen Gegengewicht) zwischen den Antriebsachsen wird vom Großmotor ebenfalls über eine Stange angetrieben.
 
 
Besonders die großen hochliegenden Elektromotoren mit Durchmessern bis zu drei Metern machten den Konstrukteuren Sorgen, die mit Trägheitsmoment, Massenbeschleunigung und Massenzuschlägen zusammenhingen. (89) In diesem Zusammenhang ist es nur wichtig festzustellen, dass die Ingenieure möglichst von den Großmotoren bei den Elektrolokomotiven abkommen wollte. Die Entwicklung ging zunächst im Ausland, Mitte der 20er Jahre auch in Deutschland, hin zum Einzelachsantrieb. (90)
 
Eine Alternative zu Kuppelstangen und Großmotoren bot der Buchli-Antrieb, der im Ersten Weltkrieg in der Schweiz entwickelt wurde. Er kam aber nur bei zehn Schnellzug-Lokmotiven in Deutschland zur Anwendung, weil er ein sehr hohes Gewicht hatte. Die aufwendige Mechanik lief in einem ölgefüllten Stahlgussgehäuse, welches so schwer war, dass der Antrieb nur auf einer Lokomotivseite angebracht werden konnte. (91)
 
Die in Bayern eingesetzte E 16 war als einzige deutsche Elektrolokomotive mit dem Buchli-Antrieb ausgestattet. Sie bewährte sich sehr gut. Die erste E 16 wurde 1926 gebaut.
 
 
Die Antriebsseite der selben Lokomotive mit der aufwendigen Mechanik zur Übertragung der Antriebskräfte auf die Achsen. Die Lokomotive wurde im Schnellzugverkehr eingesetzt und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h.
 
 
Um die deutsche Lokomotivindustrie im Konkurrenzkampf mit dem Ausland zu unterstützen, ergingen von der Deutschen Reichsbahngesellschaft 1925 Entwicklungs- und Bauaufträge für die zukunftsträchtige Einzelachs-Antriebsart an die deutsche Industrie. (92)
 
Dabei kam der Tatzlagerantrieb zu neuer Anwendung doch konnten die Ergebnisse zunächst nicht befriedigen. Der Motor wurde bei Geschwindigkeiten über 80 km(h ungünstigen dynamischen Belastungen durch die Scheinen ausgesetzt. Daneben war das Laufverhalten der Lokomotiven mangelhaft. (93)
 
Die besten Ergebnisse mit Einzelachsantrieb erzielte die AEG. Sie hatten das schon in der Schweiz benutzte Westinghouse-System weiterentwickelt. Bei diesem, auch als Federtopf-Antrieb bezeichneten System, wird die Kraft vom Motor auf ein Großzahnrad übertragen. „Dieses Großzahnrad wiederum ist an einer um die Laufachse gelegten Hohlwelle befestigt, die ihrerseits an den Rädern sechsteilige Schenkelsterne trägt, die unter Zwischenschaltung eines federnden Elementes – eben des Federtopfes – auf die Speichen des Radsatzes wirkt und diesen so in Drehung versetzt.“ (94) Der Federtopfantrieb bewährte sich so gut, dass er sich für elektrische Schnellzuglokomotiven bis 1945 durchsetzte. (95)
 
Zwei Vertreterinnen von Schnellzuglokomotiven mit dem Westinghouse-System sind die E 04 (E 104) und die E 18 (E 118). Die E 04 wurde von der AEG ab dem Jahr 1932 geliefert. Sie war zunächst für eine Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h vorgesehen. Die Höchstgeschwindigkeit konnte später auf  130 km/h gesteigert werden.
 
 
Die E 18 war ebenfalls mit dem Federtopfantrieb ausgerüstet. Noch heute besticht die Lokomotive durch ihr kraftvolles Aussehen. Bei der Deutschen Reichsbahn war die Lokomotive für eine Höchstgeschwindigkeit von 180 km/h vorgesehen.
 
 
Einen Höhepunkt brachte in dieser Entwicklung die Einrahmen-Lokomotive E 19. Sie war für Geschwindigkeiten bis 225 km/h ausgelegt und, wie schon erwähnt, für den Schnellverkehr zwischen Berlin und München vorgesehen. (96) Vier Doppelmotoren mit zusammen über 4.000 kW Stundenleistung bei einem Leistungsgewicht von 27,2 kg/kW machten die E 19 bis in die 60er Jahre zu einer Ausnahme-Lokomotive auf dem bundesdeutschen Schienennetz. (97)
 
Hier die E 19 12 zu Bundesbahnzeiten. Die schönen Lokomotiven wurden bei der Deutschen Bundesbahn 1978 ausgemustert.
 
 
Zwar hatte sich der Federtopfantrieb bei Schnellzuglokomotiven durchgesetzt, doch galt dies nicht für den gemischten Dienst und bei Güterzügen. Auf diesem Gebiet konnte trotz der schon angesprochenen Schwierigkeiten der Tatzlagerantrieb ab 1930 an Bedeutung gewinnen. Er wurde auch bei der E 44 angewandt, mit der Siemens nicht nur der große Durchbruch in den 30er Jahren gelang, sondern in dieser Baureihe mit ihren konstruktiven Merkmalen liegt der Ursprung für alle modernen, nach dem zweiten Weltkrieg gebauten Bundesbahn-Elektrolokomotiven. (98)
 
Die E 44 wurde in einer großen Stückzahl gebaut. Die eher unscheinbare Maschine bewährte sich im Betrieb sehr gut.
 
 
Die für den heutigen Betrachter gegenüber der E 19 eher unscheinbare Maschine zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Die E 44 hatte zwei Drehgestelle mit je zwei Achsen, wobei pro Achse ein Tatzlagermotor zur Anwendung kam. Auf Laufachsen, wie sie bei der E 19 aus Gewichtsgründen noch verwendet werden musste, konnte ganz verzichtet werden. (99) Der Lokomotivkasten und der Brückenrahmen war überwiegend geschweißt. Damit waren die Ingenieure erstmals von der bisher üblichen schweren Nietkonstruktion abgegangen und konnte so das Leistungsgewicht der Lokomotive auf 35,5 kg/kW senken. Die Werte für vergleichbare Fahrzeuge lagen vorher zwischen 50 und 90 kg/kW. (100) Von der E 44 wurden bis Kriegsende die für damalige Verhältnisse große Stückzahl von 174 Maschinen in Dienst gestellt. (101)
 
 
1.2.3 Elektrifizierung im Zweiten Weltkrieg
 
Wie im Ersten Weltkrieg so gingen auch im Zweiten Weltkrieg die Elektrifizierungsabreiten weiter. Abgesehen von den letzten Kriegstagen fanden keine Betriebseinstellungen im elektrischen Netz statt. Das noch vor Kriegsbeginn festgelegte Ziel, um das Jahr 1942 von München nach Berlin elektrisch zu fahren, konnte nicht eingehalten werden. Die Reichsbahn bemühte sich aber, die letzte Lücke zwischen dem bayrischen und dem mitteldeutschen Netz zu schließen. Am 2. November 1942 konnte das letzte fehlende Teilstück zwischen Weißenfels und Leipzig in Betrieb genommen werden.
 
Damit waren erstmals in Deutschland sinnvolle Langläufe von Elektrolokomotiven möglich. (102) Noch 1944 wurde eine Teilstrecke in Mitteldeutschland zu den Leunawerken elektrifiziert. Luftangriffe auf Werk und Bahnanlagen verhinderten jedoch eine Inbetriebnahme. (103)
 
Schon ab 1943 fielen durch die verstärkten Bombenangriffe der Alliierten auch Elektrolokomotiven durch Beschädigungen aus. Das Lieferprogramm der Elektrolokomotivhersteller wurde im gleichen Jahr auf zwei Baureihen reduziert. Dabei handelte es sich um die schon bekannte E 44 (Kriegslokomotive 1) für den mittleren Dienst und eine schwere Güterzuglokomotive der Baureihe E 94 (104) (Kriegslokomotive 2). (105)
 
Die abgebildete Lokomotive wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Im Wesentlichen entspricht sie allerdings der Kriegslokomotive 2.  
 
 
1945 ging der Eisenbahnbetrieb in Deutschland durch die zahlreichen Zerstörungen und das Vorrücken er Alliierten auf das Ruhrgebiet langsam zu Ende. Die Dampflokomotiven blieben aus Kohlemangel stehen, während die Elektrolokomotiven durch zerstörte Oberleitungen zum Stillstand kamen. Wieweit die militärischen Bedenken zum elektrischen Betrieb wirklich zutrafen, lässt sich wegen dem verhältnismäßig kleinen Netz nur schwer beurteilen. (106)
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