Elektrifizierungspläne und die Entwicklung bei den Elektrolokomotiven

 
2.4 Elektrifizierungspläne
 
2.4.1 Erster Gesamtplan
 
Während die Deutsche Bundesbahn und fast alle europäischen Eisenbahnverwaltungen die wirtschaftlichen Vorteile der Elektrifizierung für erwiesen hielten und an den Ausbau ihrer elektrischen Netze dachten, gab es bei ausländischen Eisenbahnfachleuten, die sich zu den Plänen der Bndesbahn äußerten, andere Auffassungen. Die Gutachter Homberger und Cottier zweifelten die hohen Kostenersparnisse bei elektrischem Eisenbahnbetrieb an und glaubten, dass eine Rasche Beseitigung der Kriegsschäden für den Betrieb der Deutschen Bundesbahn zunächst wichtiger sei. (187) Fachleute aus den USA lehnten aus wirtschaftlichen Gründen die Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken in der Bundesrepublik völlig ab und empfahlen der Bundesbahn, die begonnenen Planungsarbeiten einzustellen. Stattdessen schlugen sie zur Leistungssteigerung der Strecken Zentralstellwerke und selbsttätige Blocksignale vor. Sie befürworteten außerdem die Erhöhung der Achszahl und Zuglasten für Güterzüge. (188)
 
Gegenüber den amerikanischen Kritikern betonte die Bundesbahn die völlig anderen Betriebsverhältnisse in Mitteleuropa gegenüber den USA. Die Vorschläge seien zu sehr von den dortigen Gegebenheiten geprägt und deshalb für bundesrepublikanische Verhältnisse nicht anwendbar. Die vorgeschlagenen Mittel könnten die erforderliche Leistungssteigerung der Hauptstrecken nicht erbringen. Nur der elektrische Betrieb erlaubt die beschleunigte Räumung der Bahnhöfe und die schnelle Überwindung von Steigungen. (189)
 
Die Bundesbahn plante also weiter den Ausbau ihres elektrischen Netzes. Die alten Elektrifizierungspläne mit ihrer Ausrichtung auf Berlin waren durch die Teilung Deutschlands hinfällig geworden. Es ging 1949/50 um die Frage, welche Strecken in den nächsten Jahrzehnten unter Draht genommen werden sollten. Bei der Auswahl spielte die bestmögliche Ausnutzung der Vorteile der elektrischen Traktion eine entscheidende Rolle. Daher kamen zunächst Strecken mit starkem Verkehr oder großen, langen Steigungen in Betracht. Daneben wurde an die weitere Elektrifizierung im kohlefernen süddeutschen Raum gedacht. (190)
 
Der erste Gesamtplan für die 50er und 60er Jahre sah eine Elektrifizierung von 4600 Kilometern vor. Diese Netzerweiterung sollte die wichtigsten Ruhrgebietsstrecken, die beiden Rhein-Linien bis Basel, die Ruhr-Sieg-Strecke, die Nord-Süd-Strecke bis Gemünden und ein vervollständigtes süddeutsches Netz umfassen. Einen genauen Zeitplan gab es zu dem Vorhaben nicht, a die Finanzierbarkeit noch nicht zu übersehen war. Außerdem wollte die Bundesbahn die Elektroindustrie nicht auf übergroße Kapazitäten bringen, deren langfristige Auslastung nicht sichergestellt werden konnte. (191)
 
Anfang 1950 musste noch festgelegt, wo im Rahmen des Gesamtplanes mit den Elektrifizierungsarbeiten begonnen werden sollte. Zwei Möglichkeiten wurden damals diskutiert:
 
1. Die Rhein-Ruhr-Inselelektrifizierung
2. Die Fernstreckenelektrifizierung
 
In den folgenden zwei Abschnitten werde ich beide Ansätze vorstellen, aus denen schließlich der erste Teil-Elektrifizierungsplan für die ersten Strecken hervorging.
 
 
2.4.2 Rhein-Ruhr-Projekt
 
Für den Aufbau der Bundesrepublik spielte das Rhein-Ruhr-Gebiet mit seinen Kohlevorkommen und Industriestädten eine wichtige Rolle. Die wirtschaftliche Wiederbelebung dieses Gebietes war von leistungsfähigen Verkehrswegen abhängig. Die Experten glaubten, dass weder die Schifffahrt noch der Kraftwagen das Schwergewicht der Transportleistungen übernehmen könnte. Der Binnenschifffahrt fehlte dazu ein ausreichendes Wasserstraßennetz und dem Kraftwagen der heimische Treibstoff. Durch die Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes im Ruhrgebiet mit einer Stromversorgung auf Kohlebasis, glaubten die Verkehrsexperten den steigenden Anforderungen im Industrierevier genügen zu können. (192) Das dichte Schienennetz machte mit 6250 Kilometern ¼ des Gesamtnetzes der ehemaligen Bizone aus. Schon 1949 waren die Hauptstrecken im Rhein-Ruhr-Gebiet extrem hoch belastet. (193) Besonders der Personennahverkehr im Ruhrgebiet musste dringend modernisiert werden, da mit Dampfzügen die Reisezeiten nicht auf ein befriedigendes Maß gebracht werden konnten. Vor allem in den Hauptverkehrszeiten stieß der Dampfbetrieb an seine Grenzen. (194)
 
1950 sahen Fachleute folgende Lösung der Verkehrsproblematik im Rhein-Ruhr-Gebiet:
„Eine Steigerung der Verkehrsleistung in diesem eng vermaschten Verkehrsnetz
lässt sich .... nur durch schnelle Räumung der Bahnhöfe und Strecken durch hohe Anfahrbeschleunigungen erzielen, die nur bei elektrischer Zugförderung erreichbar (ist).“ (195)
Der erstellte Elektrifizierungsplan für das Rhein-Ruhr-Gebiet umfasste für den ersten Bauabschnitt von acht Jahren eine Streckenlänge von 1.077 Kilometern. Die Eckpunkte des Netzes sollten Köln, Duisburg, Osnabrück, Hamm, Hagen und Wuppertal sein. In weiteren acht Jahren sah das Rhein-Ruhr-Projekt Verbindungen nach Dillenburg, Oberlahnstein, Koblenz und Aachen, den Hauptabfuhrstrecken des Industriegebietes vor. (196) Unter günstigsten Bedingungen hofften die Planer in 16 bis 20 Jahren rund 2.000 Streckenkilometer zu elektrifizieren. Für den ersten Bauabschnitt rechnete die Bundesbahn mit Kosten in Höhe von etwa 570 Millionen DM. (197)
 
Wegen der hohen Verkehrsdichte erhofften sich die Befürworter des Rhein-Ruhr-Projektes eine gute Wirtschaftlichkeit der Elektrifizierung. Daneben führten sie zugunsten ihres Planes den hohen Lohnanteil bei den Investitionen von etwa 80 Prozent des Kapitals an. Damit wäre die Elektrifizierung an Rhein und Ruhr als großes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu sehen. (198)
 
Bei Verwirklichung des Rhein-Ruhr-Projektes wäre für längere Zeit ein elektrischer Inselbetrieb ohne eine Verbindung mit dem bestehenden süddeutschen Netz entstanden.
 
 
2.4.3 Fernstreckenelektrifizierung
 
Das Rhein-Ruhr-Projekt wurde zunächst von der Bundesbahn günstig beurteilt, doch mehrten sich im Verlauf der Planungsphase ablehnende Stimmen. Die Kritiker rechneten nicht mit einem befriedigenden Ergebnis der Ruhrgebietselektrifizierung, weder in verkehrlicher, wirtschaftlicher noch betrieblicher Hinsicht. Besonders in der ersten Ausbauphase wäre ein sinnvoller Langlauf von elektrischen Lokomotiven nicht möglich. Auch die Elektrifizierung direkt im Kohlerevier würde den wirtschaftlichen Erfolg für die Bundesbahn schmälern. Das Rhein-Ruhr-Projekt hätte daher nur im Personenverkehr spürbare Verbesserungen zur Folge. (199)
 
Fachleute machten daher den Vorschlag, von der Inselelektrifizierung abzugehen und statt dessen eine Fernstreckenelektrifizierung zu betreiben. Ihr Plan sah die Umstellung auf elektrischen Betrieb für die wichtigsten Hauptstrecken an der Ruhr, die beiden Rheinstrecken bis Mainz und Frankfurt und deren Anschluss an das süddeutsche Netz über Stuttgart vor. Die Bauzeit und Baukosten für die erste Planstufe veranschlagten sie nur etwas höher als bei der Stufe 1 des Rhein-Ruhr-Projektes. Die Streckenlänge betrug statt 1000 etwas über 1200 Kilometer. (200) Die Befürworter der Fernstreckenelektrifizierung gaben im wesentlichen folgende Vorteile für ihren Plan an:
Ohne erhebliche Kostensteigerung könne die Bundesbahn auf weniger stark belasteten Strecken im Ruhrgebiet Dieseltriebwagen im Personenverkehr einsetzen. Die Ersparnis bei den Fernstrecken wäre größer als beim Inselbetrieb an Rhein und Ruhr. Die beiden Rheintalstrecken seien sowohl für den Reise- als auch für den Güterverkehr von entscheidender Bedeutung, da der Verkehrsstrom sich nach dem Krieg auf die Nord-Süd-Richtung konzentriert hätte. Die Rheinstrecken wären schon voll belastet und eine Vermehrung des Reisezugangebotes mit Dampfbetrieb kaum noch möglich. Bei den Reisegeschwindigkeiten könnten Langläufe von Elektrolokomotiven zu Zeitgewinnen zwischen 20 – 40 Prozent führen. Die Arbeit von 100 Dampflokomotiven würden 500 elektrische Lokomotiven übernehmen. (201) Weiter könnte der Dienstkohleanteil von 21 Prozent der gesamten Kohleabfuhr vom Ruhrgebiet in den süddeutschen Raum durch die Fernstreckenelektrifizierung erheblich gesenkt werden. Der Rationalisierungsgewinn würde der Deutschen Bundesbahn etwa 90 Millionen DM pro Jahr einbringen. (202)
 
Ende 1950 gaben der Bundesverkehrsminister und die Verkehrsminister der Länder ihre Zustimmung zum Fernstreckenelektrifizierungsplan. Neben den bereits erwähnten Strecken sollte das elektrische Netz in Bayern von Nürnberg über Würzburg in Richtung Frankfurt vorangetrieben werden. Die Verwirklichung des Elektrifizierungsplanes sollte in zwei Teilstufen erfolgen. In der ersten Phase sollten im Ruhrgebiet folgende Strecken unter Draht genommen werden:
 
Hamm – Essen – Duisburg – Düsseldorf – Köln
Hamm – Wanne-Eickel – Duisburg
Essen – Gelsenkirchen
Mühlheim – Oberhausen
(203)
 
Diese vier insgesamt 300 Kilometer langen Strecken sollten in vier Jahren auf elektrischen Betrieb umgestellt werden. Dazu war die linke Rheinstrecke als erste Verbindung zwischen Ruhrgebiet und Süddeutschland geplant, weil dort der Verkehr dringend beschleunigt werden musste und alle großen Städte wie Köln, Bonn, Koblenz, Bingen und Mainz an der linken Rheinstrecke liegen. Vom Mittelrhein nach Stuttgart sah die erste Baustufe die Verbindung über Darmstadt, Heidelberg, Bruchsal und Mühlacker vor. (204)
 
In der zweiten Elektrifizierungsstufe sollte die rechte Rheinstrecke und die Verbindung Mannheim – Frankfurt unter Draht genommen werden. (205)
 
Alle Vorbereitungen zur Elektrifizierung waren schon aufgenommen worden. Vor Baubeginn musste jedoch die Finanzierung sichergestellt sein. Dazu äußerte sich der Reichsbahndirektionspräsident Gerteis im September 1950 wie folgt:
 
„Die Ausführung des Plane hängt davon ab, ob es möglich sein wird, mehrere Jahresraten vor Baubeginn sicherzustellen, so dass damit ein in sich geschlossener Teilabschnitt hergestellt werden kann. Die Bundesbahn kann dabei gar keinen Zweifel darüber lassen, dass sie nicht in der Lage ist, alle erreichbare Fremdkapital nur auf die Elektrifizierung zu konzentrieren und damit die Modernisierung auf ein einziges Gebiet und einen begrenzen Raum zu beschränken. So sehr sie die energische Fortsetzung der Elektrifizierung mit großer Freude bejaht, so muss doch gleichzeitig sichergestellt sein, dass es ihr erlaubt, den Wiederaufbau fortzusetzen und die unterlassene Unterhaltung und Erneuerung im ganzen Bereich der Bundesbahn nachzuholen. Das trifft bei den Anlagen insbesondere auf Oberbau, Brücken, Güterverkehrsanlagen und Werkstätten zu, beim rollenden Material auf Erneuerung, Vermehrung und Modernisierung des Wagenparks zu. Alle diese Aufwendungen werden in besonderem Maße auch der Senkung der Gestehungskosten dienen. Dieser vordringlich zu deckende Kreditbedarf beträgt auf mehrere Jahre hinaus im Durchschnitt 350 Mio. DM/Jahr. Ob und wie der große Mittelbedarf befriedigt werden kann, ist noch eine offene Frage. ....
 
Wenn der Bund sich entschließen kann, sich mehr als bisher der Bundesbahn anzunehmen, und je eher die Erkenntnis in das deutsche Volk eindringt, dass die Bundesbahn nicht vergessen werden darf, umso schneller wird die Bundsbahn zu Kräften kommen.“ (206)
 
 
2.5 Technische Entwicklung bei den Elektrolokomotiven
 
2.5.1 Erste Neubaupläne
 
Bei allen Bahnverwaltungen bestand der Wusch nach möglichst wenig Lokomotivtypen, da der Ankauf und die Unterhaltung großer Stückzahlen besonders kostengünstig ist. Außerdem versuchte die Besteller von Einrahmenfahrzeugen mit Laufachsen oder Laufgestellen (z.B. E 19) abzukommen, weil bei der Konstruktion nicht alle Achsen zum Antrieb genutzt werden und die Laufeigenschaften verbesserungswürdig waren. Die Entwicklung im Ausland lief nach dem Krieg deutlich in Richtung auf schnellfahrende Drehgestellfahrzeuge, deren Konstruktion weitgehend der schon besprochenen E 44 entsprach. Das Problem bei dieser Bauform war lange Zeit die geringe Leistungsfähigkeit, die sie für hohe Geschwindigkeiten ungeeignet machte, denn in einem Drehgestell sind die Einbaumaße für die Elektromotoren und Antrieb sehr begrenzt. Weiter darf das Motorgewicht die Achsen nicht über 20 Tonnen belasten, weil diese Marke durch den Oberbau (Gleiskörper, Schwellen, Schotterbett) vorgegeben ist. (207) So erreichten die Stundenleistungen der E 44 und E 94 pro Motor nur 550 kW, während die Einrahmenlokomotive E 19 über 1000 kW pro Motor verfügte. (208)
 
Sollten Drehgestelllokomotiven auch für höhere Geschwindigkeiten geeignet sein, so musste die Leistung der Elektromotoren bei begrenzen Einbaumaßen und Gewichten erheblich gesteigert werden. Dieses Ziel konnte im Jahre 1943 in der Schweiz und in Deutschland erreicht werden, denn es gelang der Elektroindustrie, Stundenleistungen bis zu 800 kW aus Motoren kleiner Baugröße herauszuholen, die in Drehgestellen untergebracht werden konnten.
 
In Deutschland wurde die weitere Entwicklung durch die Kriegsereignisse unterbrochen, während in der Schweiz eine solche Drehgestelllokomotive für 125 km/h Höchstgeschwindigkeit in Betrieb genommen wurde. Die technische Entwicklung ließ weitere Leistungssteigerungen erwarten, die dann den Bau einer Universallokomotive für alle Betriebsarten immer wahrscheinlicher machte. (209)
 
Nach 1945 war für den Betrieb der deutschen Eisenbahnen zunächst die Instandsetzung und Reparatur von Elektrolokomotiven wichtig, doch versuchte die Industrie, schnell an die eignen Erfahrungen im Lokomotivbau anzuknüpfen und im internationalen Vergleich aufzuholen. Um die Entwicklung im Lokomotivbau voranzutreiben, gründeten am 1. Oktober 1948 die Firmen Esslingen, Henschel, jung, Kraus-Maffei und Krupp die „Vereinigung Deutscher Lokomotivfabriken“ (VDL)“. (210) Neben neuer Dampf- und Diesellokomotiven machte sich die Mitgliedsunternehmen auch Gedanken zur Konstruktion besserer Elektrolokomotiven, wobei die Deutsche Bundesbahn an eine Universallokomotive für alle Betriebsarten mit zwei Achsen je Drehgestell dachte. Es sollte sich dabei um die Fortentwicklung von Entwürfen der Deutschen Reichsbahn handeln. 1950 beschloss das Bundesbahn-Zentralamt München und die Bundesbahn-Hauptverwaltung in Offenbach vor einer endgültigen Entscheidung die zukünftige Bauform der Elektrolokomotiven in mehreren Probemaschinen zu untersuchen. (211) Der Bundesbahn war klar geworden, dass die vor dem Krieg entwickelten Elektrolokomotiven den künftigen Anforderungen nicht genügen würden. Es sollten nun Neukonstruktionen beschafft werden. (212)
 
 
2.5.2 Vorserienlokomotive E 10
 
Für die neue Universallokomotive ließ sich die Deutsche Bundesbahn Vorschläge von den westdeutschen Lokomotiv- und Elektrofirmen machen. Aus den vorgelegten entwürfen sollten 5 Prototypen ausgewählt werden und die Bezeichnung E 10.001 – 005 erhalten. Von allen Fahrzeugen wurde eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h bei möglichst geringem Gewicht verlangt. (213) Die Bundesbahn erhoffte in der Antriebsfrage Klarheit für die kommenden Serienbauart zu bekommen. „Von den verschiedenen Lösungen wurde für die Erprobung in neuen Lokomotiven der Deutschen Bundsbahn folgende Bauarten gewählt:
 
1. Alsthom-Hohlwellenantrieb der französischen Firma Alsthom (E 10.001)
 
2. Scheiben-Kardanantrieb der schweizer Firma BBC (E 10.002)
 
3. Lamellen-Kardanantrieb der schweizer Firma Sécheron (E 10.004 u. E 10.005)
 
4. Gummiringfederantrieb der Firma Siemens (E 10.003)
 
Die obige Reihenfolge entspricht der zeitlichen Folge der Entwicklung.“ (214)
 
Die Ende 1950 von der Bundesbahn bestellten fünf Vorserienlokomotiven kamen zwischen August 1952 und März 1953 zur Auslieferung. Die E 10.001 bis 004 durchliefen ein umfangreiches Versuchsprogramm, das auch steile Gebirgsstrecken in Österreich einschloss, bevor sie, wie die E 10.005, in den planmäßigen Dienst übernommen wurden. Die gemachten Erfahrungen zeigten jedoch, dass die Vorserienlokomotiven für die verschiedenen Betriebsarten wie Schnell- oder Güterzugdienst immer nur gegrenzt tauglich waren. So ging die Deutsche Bundesbahn von der Beschaffung einer elektrischen Universallokomotive wieder ab, wobei die Erkenntnis, die mit den fünf Probelokomotiven gemacht worden waren, berücksichtigt werden sollten. (215) Keine Maschine wurde nachgebaut, doch haben sie sich im planmäßigen Einsatz lange bewährt. Anfang der 70er Jahre hatte die E 10.001 mehr als 2 Millionen Kilometer zurückgelegt. (216)
 
 
Vorserien E 10
 
2.5.3 Elektrische Einheitslokomotiven
 
Bei der Planung der neuen Elektrolokomotiven legte die Deutsche Bundesbahn großen Wert auf möglichst einheitliche Bauteile bei allen Typen, wie dies bei den Dampflokomotiven schon in den 20er Jahren erfolgreich durchgesetzt worden war. Daher wurden die neuen elektrischen Baureihen auch als Einheitslokomotiven bezeichnet. (217)
 
Im Jahre 1954 gingen die Elektrifizierungsarbeiten verstärkt von der Planungs- in die Bauphase über. (218) So wurden Bestellungen neuer Elektrolokomotiven immer dringlicher. Die Bundesbahn entschloss sich unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit den Vorserienlokomotiven E 10 zu folgenden Typenprogramm (219):
 
E 10: für den Schnellzugdienst bis 140 km/h
E 40: für Güter- und Personenzüge bis 100 km/h
E 41: für leichte Güter und Personenzüge bis 120 km/h
E 50: für schwere Güterzüge bis 100 km/h
 
Keine der neuen Elektrolokomotiven erreichte die 180 km/h Höchstgeschwindigkeit der schon beschriebenen Vorkriegsmaschine E 19, die pro Motor eine Stundenleistung von 1000 kW hatte. Trotzdem kann nicht von einem Rückschritt im Elektrolokomotivbau gesprochen werden, denn neben dem Verzicht auf Laufachsen und dem Übergang auf Drehgestell-Lokomotiven bei weitgehender Vereinheitlichung kam der Deutschen Bundesbahn auf niedrige Unterhaltskosten durch hohe Kommutator-Laufleistungen und günstige Leistungsgewichte an. Auf eine hohe Endgeschwindigkeit wurde verzichtet, weil dafür die vorhandenen Strecken nicht geeignet waren.
 
Durch eine Vielzahl von konstruktiven Änderungen am Motor konnten dessen Unterhaltungskosten gesenkt werden. (220) Um das Gewicht der Elektrolokomotive zu verringern, fertigten die Betrieb alle neuen Bauteile ab 1952 in Stahlleichtbauweise an. Dabei versuchten die Konstrukteure, bis an die Grenze des Möglichen zu gehen, ohne auf die nötige Sicherheit und Lebensdauer zu verzichten.
 
 
E 41 für den leichte Güter- und Personenzüge bis 120 km/h

Von der leichten Elektrolokomotive E 41 gab es bis 1969 insgesamt 451 gebaute Einheiten, die vor allem im Nahverkehr ihren Dienst aufnahmen.

 
Die E 41 stellte das Optimum in der Leichtbauweise mit einem Metergewicht des mechanischen Teiles von 2240 kg/m dar, während die E 10 im Leistungsgewicht von 23,2 kg/kW am besten abschnitt. Die Vergleichszahlen für die E 19 lauten 27,2 kg/kW und 3530 kg/m. (221) Die E 10 und E 40 unterscheiden sich lediglich im Übersetzungsverhältnis und im Bremssystem voneinander. Bei allen vier Baureihen sind Stromabnehmer, Hauptschalter, Schütze, Führerstände und weitere Kleinteile gleichartig ausgeführt. (222) Für nahezu alle neuen Elektrolokomotiven wählte die Bundesbahn den bei der Vorserien-E-10.003 erprobten Gummiringfederantrieb der Siemens-Schuckert-Werke aus. Dieser drehelastische Antrieb ist konstruktiv mit dem schon beschriebenen Tratzlagermotor verwandt. (223)
 
„Bei dieser Antriebskonstruktion ist der Motor über Rollenlager auf eine Hohlwelle gelagert. Diese Hohlwelle umschließt die Triebachse mit einem gewissen Abstand und stützt sich federnd über Gummielemente auf die Triebachse ab. Diese Elemente bilden einen in einzelne Segmente aufgeteilten, im Treibrad auf der Radnarbe liegenden Ring, daher auch der Name „Gummiringfederantrieb“. Das Getriebe besteht aus einem großen und einem kleinen Zahnrad, .... Das Großrad befindet sich auf der erwähnten Hohlwelle, das Kleinrad direkt auf der Motorwelle. Die Gummiringfedern dämpfen die vom Gleis her kommenden vertikalen Stöße erheblich ab. Für einen Kommutatormotoer ist dies besonders wichtig, es trägt sehr zur Herabsetzung der thermischen Belastung des Kommutators beim Anfahren bei. Da dieser Antrieb den Motor in optimaler Weise schont, wurden nahezu alle nach dem Krieg für die Deutsche Bundesbahn gebauten Lokomotiven mit dem Gummiringfederantrieb ausgerüstet.“ (224)
 
Auch die anderen Vorserienlokomotiven steuerten einzelne Bauteile zu den neuen Baureihen bei, die ab Herbst 1954 in großen Stückzahlen bei verschiedenen Herstellern bestellt wurden. (225) Die erste Neubeschaffung sah insgesamt 184 Lokomotiven vor. Davon entfielen auf:
 
E 10 = 51 Stück (226) zu je 1.050.000 DM (227)
E 40 = 68 Stück zu je 1.000.000 DM
E 41 = 24 Stück zu je 750.000 DM
E 50 = 41 Stück zu je 1.350.000 DM
 
Die Maschinen wurden ab 1956/57 bei der Deutschen Bundesbahn in Dienst gestellt. (228)
 
Die Schnellzuglokomotive E 10 wurde bis 1969 gebaut und hat sich gut bewährt, wenn auch die Laufeigenschaften noch etwas besser hätten sein können. In dem langen Beschaffungszeitraum wurde der Motor weiter verbessert, so dass Kommutatorlaufleistungen von 600.000 Kilometern erreicht wurden. Die Lokomotiven legten an einem Tag oft über 1.000 Kilometer zurück. Als Anfang der 60er Jahre der Rheingold“-Zug mit 160 km/h befördert werden sollte, wurde aus der E 10 die E 10.12 entwickelt. Die wesentlichen Veränderungen betrafen dabei die Getriebeübersetzung, Drehgestelle und Karosserie. Insgesamt wurden von der Baureihe E 10 378 Maschinen gebaut, während von der schnelleren Version 31 Stück hergestellt wurden.
 
 
Die E 10 für den Schnellzugdienst bis 140 km/h
 
Die Schwestermaschine der E 10, die E 40, brachte es bis 1973 auf eine Gesamtzahl von 879 Exemplaren. Bei dieser Elektrolokomotive nutzte sich der Kommutator wegen der niedrigen Motorströme erst nach 1,2 bis 1,8 Millionen Kilometer ab.
 
 
Die E 40 für Güter- und Personenzüge bis 120 km/h (Lok in der Beschriftung ab 1968)
 
Mit 194 Stück sind von der schweren Güterzuglokomotive E 50 relativ wenig Exemplare gebaut worden. Sie waren auch nur für die steilen Rampenstrecken der Mittelgebirge vorgesehen. Dabei legten sie im Schnitt rund 12.000 Kilometer pro Monat zurück. (229)
 
 
Die E 50 für schwere Güterzüge bis 100 km/h (Lok in der Beschriftung ab 1968)

 

2.5.4 Entwicklung zur Schnellfahrlokomotive

 
In dem 1954 festgelegten Typenprogramm für elektrische Lokomotiven fehlte eine ausgesprochene Schnellfahrlokomotive. Die damalige Eisenbahn Bau- und Betriebsordnung sah nur eine Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h vor. An schnellere Züge war zunächst nicht gedacht. (230)
 
In den 60er Jahren bemühte sich die Bundesbahn unter wachsenden Konkurrenzdruck der anderen Verkehrsträge, ihr Angebot durch Verkürzung der Fahrzeiten zu verbessern. Dazu musste die Höchstgeschwindigkeit der elektrischen Triebfahrzeuge gesteigert werden. (231) Fernzüge wie „Rheingold“ und „Rheinpfeil“ fuhren mit der E 10.12 Tempo 160. In der Zukunft sollten Geschwindigkeiten bis zu 200 km/h erreicht werden. Ab März 1961 arbeiteten Industrie und Bundesbahnzentralamt München an einer Lokomotive, die 6.000 kW Dauerleistung über zwei dreiachsige Drehgestelle auf die Schienen bringen sollte. Der Achsdruck war mit 18 Tonnen zur Schonung des Oberbaus relativ niedrig angesetzt. Um neue Drehgestelle, Antriebe, Stromabnehmer und Steuerungen auszuprobieren, rüsteten die Firmen zunächst Lokomotiven der Baureihe E 10 mit den entsprechenden Teilen aus. Auf der Strecke Bamberg – Forchheim wurden 1963 Probefahrten durchgeführt, bei dem die E 10 299 und E 10 300 die Geschwindigkeit von 200 km/h erreichten. Noch im gleichen Jahr ging der Auftrag für vier Prototypen der neuen Baureihe E 03 an die Industrie. (232)
 
 
2.5.5 Vorauslokomotive E 03
 
Ähnlich wie bei den Vorserienlokomotiven der Einheitsbaureihen entschoss sich die Deutsche Bundesbahn auch bei der neuen Schnellfahrlokomotive, verschiedene Konstruktionen zu testen, bevor ein großer Bauauftrag vergeben werden sollte. Allen Fachleuten war klar, dass bei sehr hohen Geschwindigkeiten vom Gummiringfederantrieb abgegangen werden musste, da bei ihm der Motor nicht vollständig abgefedert ist. Von den vier Prototypen rüsteten die Firmen je zwei Lokomotiven mit dem Henschel-Verzweigerantrieb und dem Siemens-Gummiringkardanantrieb aus. Die Lokomotiven bekamen aus Gewichtsgründen einen leichten geschweißten Rahmen, auf den eine ebenfalls im Leichtbau gefertigte Haube gesetzt wurde. (233) Für die hohe Fahrgeschwindigkeit waren besondere Sicherheitseinrichtungen, wie mehrere voneinander unabhängige Bremssysteme nötig. (234) „Viel Aufsehen bei der Premiere der neuen Baureihe im Frühjahr 1965 erregte auch die Möglichkeit der selbsttätigen Fahr- und Bremssteuerung, für die der Lokführer nur noch die angestrebte Geschwindigkeit vorwählen sowie die Signalisation des entfernteren Streckenzustandes über Linienleiter auf den Führerstand, um überhaupt innerhalb de herkömmlichen Signalabstandes mit 200 km/h fahren zu können.“ (235)
 
Die vier Vorauslokomotiven hatten eine Stundenleistung von 6420 kW bei 200 km/h. (236) Mit ihnen wurde erstmals auf der Internationalen Verkehrsausstellung in München der planmäßige Verkehr auf der Strecke München – Augsburg mit Geschwindigkeiten bis 200 km/h eröffnet. Damit war die Deutsche Bundesbahn in Bezug auf Hochleistungslokomotiven wieder führend in Europa. (237)
 
 
Vorserien E 03 für eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h
 
Die aerodynamische Kopfform der Schnellfahrlokomotive E 03
 
2.5.6 Serienausführung E 03
 
Bis zur Serienausführung der E 03 verging eine geraume Zeit, denn die Wirtschaftskrise in der zweiten Hälfte der 60er Jahre und Überlegungen zum zukünftigen Schnellverkehr in der Bundesrepublik verzögerten die Beschaffung. Die Deutsche Bundesbahn hatte in einem neuen Leitprogramm festgelegt, dass in Zukunft TEE- und Fernzüge mit 200 km/h zu befördern seien. 1967 war in der Eisenbahn Bau- und Betriebsordnung schon die Geschwindigkeit für schwere Schnellzüge von 140 auf 160 km/h erhöht worden. (238) Das neue Konzept sah für die Serienausführung der E 03, die im Computer-Nummernplan in E 103 umbenannt wurde, eine erhöhte Anhängelast vor. Um den Anforderungen gerecht zu werden, musste die Leistung der Maschine erheblich gesteigert werden. (239)
 
Für den Bau der Serienlokomotive, die ab 1970 von der Bundesbahn beschafft wurde, lagen in der Zwischenzeit umfangreiche Erfahrungen mit den Vorauslokomotiven vor. Außerdem hatte die technische Entwicklung zu neuartigen Isolierstoffen geführt. Auch in der Auslastung elektrischer Maschinen und Apparate war die Elektroindustrie erheblich weiter gekommen. Alle Verbesserungen führten schließlich zu der geforderten Leistungssteigerung. Hatte die Stundenleistung bei den Vorserienlokomotiven schon bei 6.420 kW gelegen, so konnte die Leistung in der Serienausführung auf 7.080 kW geschraubt werden. Die Lokomotive kann kurzfristig für die Beschleunigung erheblich mehr leisten. Die 10-minuten-Leistung beträgt bei einer Geschwindigkeit von 152 km/h 10.400 kW. (240) Bei diesen Anforderungen ist die Wärmeentwicklung der elektrischen Bauteile beträchtlich, so dass für ausreichende Kühlluft gesorgt werden muss. Kennzeichen für die E 103 sind daher die großen Lüftungsgitter, die einen Großteil der Seitenflächen ausmachen. (241)
 
Die Konstrukteure rechneten für die Beschleunigung eines voll besetzten Schnellzuges mit 14 Wagen in der Ebene von 0 km/h auf 200 Km/h eine Zeit von 269 Sekunden aus, wobei der Zug eine Strecke von 9,7 Kilometer zurückgelegt hätte. Bei Probefahrten mit der Vorserienlokomotiven auf der Strecke München – Augsburg hatte sich gezeigt, dass die Rechenwerte für Anfahrtszeit und –weg in der Realität bis zu 25 Prozent unterschritten wurden. (242)
 
Bei den Prototypen der E 103 hatte sich, wie schon bei der E 10, eine Siemenskonstruktion am besten bewährt. Daher wurde für die Serien e 103 der Siemens-Gummiringkardanantrieb verwendet. (243) „Bei diesem antrieb ist der Motor fest im Drehgestell eingebaut. Daher muss bei der konstruktiven Auslegung das volle Achsfederspiel berücksichtigt werden. Die Ingenieure erreicht dies mit einer in entsprechendem Abstand über die Triebachse geschobene Hohlwelle, ähnlich wie beim Gummiringfederantrieb. Diese Hohlwelle ist auf der einen Seite über ein Gelenk mit dem am Motorgehäuse befestigen Zahnradgetriebe und auf der anderen Seite über ein zweites Gelenk mit dem Triebrad verbunden. Der Ausgleich des Achsfederspiels erfolgt über eine entsprechende Schrägstellung der Hohlwelle. Die Gelenke können unterschiedlich ausgeführt sein. Bei der Lokomotive E 103 hat der Antrieb auf der Motorseite ein Hebelgelenksystem und auf der Treibradseite Gummielemente wie beim Gummiringfederantrieb. Dadurch erhält auch dieser Antrieb die für Kommutatormotoren erwünschte Drehelastizität.“ (244)
 
Im Jahr 1972 waren von den Schnellfahrlokomotiven E 103 mit den vier Vorseriemaschinen zusammen 118 Stück bei der Deutschen Bundesbahn in Dienst gestellt worden. (245) Sie bestritten den schweren D-Zug und TEE-Verkehr. Außerdem ermöglichte die Baureihe E 103 im Jahre 1971 auf dem inzwischen fast 9.000 Kilometer umfassenden elektrifizierten Streckennetz der Bundesbahn die Einführung des IC-Verkehrs, bei dem ein Liniennetz die wichtigsten deutsche Städte miteinander verband, auf denen zunächst im Zwei-Stunden-Takt Züge der ersten Wagenklasse fuhren. Dabei legte eine E 103 den Spitzenwert von 38.861 Kilometer in einem Monat zurück, was einen Tagesleistung von über 1.200 Kilometer entspricht.
 
Siemens und Henschel bauten 1972 eine E 103 mit geänderter Getriebeübersetzung, die Geschwindigkeit bis 250 km/h zuließ. Diese Lokomotive führte auf der Strecke Gütersloh – Neubeckum umfangreiche Messfahrten durch, bei denen Erkenntnisse über die Bauweise zukünftiger Neubaustrecken gewonnen werden sollten. Dabei erreichte die E 103 118 am 12. September 1973 eine neue Bestmarke für deutsche Schienenfahrzeuge mit 252,9 km/h. (246)
 
Der alte Weltrekord aus dem Jahre 1903 auf der Militärbahn zwischen Marienfelde und Zossen mit Drehstrom-Triebwagen hat somit in Deutschland erst nach 70 Jahren überboten werden können.
 
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