Einleitung

0. Einleitung

0.1 Einführung
 
Unbestritten ist, dass die Eisenbahn im 19. Jahrhundert in Deutschland wesentlich zur Industrialisierung beigetragen hat. Der Eisenbahnbau und –betrieb bewirkte ein Take-Off in vielen Wirtschaftszweigen wie Bergbau, Handel sowie Eisen- und Stahlindustrie. Die große Nachfrage an Investitionsgütern im Eisenbahnsektor führte im Konkurrenzkampf mit dem Ausland zu einer Modernisierung der deutschen Industrie. Eigene Verbesserungen und Entwicklungen fanden Eingang in den Eisenbahnbetrieb und brachten die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland weiter voran. (1)
 
Die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Elektroindustrie versuchte, ihre Produkte im gewinnversprechenden Eisenbahnsektor unterzubringen. Sowohl Werner Siemens als auch Emil Rathenau, die um 1900 führenden Vertreter der Elektroindustrie, sahen das Zeitalter der elektrischen Bahnen herannahen. Bis dahin hatten sie und ihre Konkurrenten die Pferdebahnen in den Städten und den Nahverkehr auf elektrischen Betrieb umgestellt. Dabei waren ihre Geschäftspartner Kommunen oder kleine Aktiengesellschaften gewesen, die sich schnell von den Vorteilen der neuen Antriebsart überzeugen ließen. (2)
 
Technisch war um die Jahrhundertwende auch die Elektrifizierung längerer Strecken der Länderbahnen möglich. Den Beweis dafür erbrachten die Schnellfahrversuche mit elektrischen Triebwagen auf der Militärbahn Marienfelde – Zossen in der Nähe von Berlin, bei denen 1903 Geschwindigkeiten von über 210 km/h erreicht wurden. Dennoch konnte trotz großer Anstrengungen die Elektroindustrie erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg Vollbahnelektrifizierungen durchsetzten. (3) In der Denkschrift zur ersten preußischen elektrischen Vollbahn Dessau – Bitterfeld im Jahre 1909 wurden nicht nur die Vorteile der elektrischen Traktion für den Eisenbahnbetrieb erkannt, sondern die Verfasser erhofften sich durch weitere Elektrifizierungsmaßnahmen die Haus-, Klein- und Großindustrie zu fördern, indem ihr an vielen Stellen elektrische Energie zu geringen Preisen verfügbar gemacht werden sollte. Die Elektrifizierung der Eisenbahn war als Motor für den technischen Fortschritt und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gedacht. (4) Diese Hoffungen erfüllten sich nicht. Zwei Kriege, militärische, politische und wirtschaftliche Hemmnisse verhinderten den Aufbau eines großen, flächendeckenden, elektrischen Eisenbahnnetzes in Deutschland.
 
Im Jahre 1949, siebzig Jahre nach den ersten elektrisch betriebenen Eisenbahn der Welt in Berlin und vierzig Jahre nach der erwähnten Denkschrift zur Strecke Dessau – Bitterfeld in Preußen, machte das sich auf Süddeutschland konzentrierende elektrische Netz der eben gegründeten Deutschen Bundesbahn ganze 5,2 % der Gesamtstrecken aus. (5) Das noch im 19. Jahrhundert so moderne Verkehrssystem war in der Zwischenzeit in vielen Bereichen vernachlässigt worden und veraltet. Die Deutsche Bundesbahn musste sich mit einem nur notdürftig von Kriegsschäden befreiten Streckennetz, das durch die Teilung Deutschlands obendrein eine falsche Ausrichtung aufwies, der wachsenden Konkurrenz von Straße und Binnenschifffahrt stellen. Anfang der 50er Jahre war die Eisenbahn noch das Rückgrat im deutschen Personen- und Güterverkehr. Den steigenden Anforderungen war die Bundesbahn mit den bestehenden Betriebsverhältnissen in Zukunft nicht gewachsen. Die Leistungsfähigkeit im Schienenverkehr, besonders auf den Nord-Süd-Strecken, musste gesteigert werden. In dieser Situation blieb als einzige erfolgversprechende Möglichkeit die Elektrifizierung der stark belasteten Hauptstrecken, da elektrische Lokomotiven über gute Beschleunigung, Steigfähigkeit und Endgeschwindigkeit verfügen, wodurch sich der Durchsatz von Zügen auf Strecken steigern ließ. (6) 1950 entschloss sich daher die Deutsche Bundesbahn, einen Elektrifizierungsplan für die nächsten Jahrzehnte aufzustellen, der in der ersten Baustufe die Verbindung zwischen dem Ruhrgebiet und Süddeutschland herstellen sollte. Das Fernziel war die Elektrifizierung aller Hauptstrecken in der Bundesrepublik. (7) Anfang der 70er Jahre war im wesentlichen das Ziel erreicht. 9000 Kilometer elektrisch betriebener Eisenbahnstrecken verbanden die wichtigsten Städte in der ganzen Bundesrepublik untereinander. (8) Auf diesem Netz baute die Deutsche Bundesbahn ab 1971 ihren Inter-City-Schnellverkehr auf, bei dem die Züge, wenn auch nur auf wenigen kurzen Streckenabschnitten, planmäßig 200 km/h fuhren. Über 60 Jahre hat es gedauert, bis die Schnellfahrversuche von 1909 in die alltägliche Praxis der Deutschen Bundesbahn umgesetzt werden konnten.
 
Die Elektrifizierung in der Bundesrepublik hat den Schienenverkehr schneller und leistungsfähiger gemacht, doch kam sie zwanzig Jahre zu spät um der Deutschen Bundesbahn im Konkurrenzkampf mit der Straße eine bessere Chance zu geben. In den 50er und 60er Jahren wanderte ein Großteil der Bahnkunden von der Schiene zur Straße ab. Dies war mit der Grund, weshalb die Deutsche Bundesbahn aus den roten Zahlen, abgesehen vom Jahr 1951, nie heraus kam. Zwar versuchten alle Verkehrsminister, die finanzielle Situation der Bahn durch verkehrspolitische Maßnahmen zu verbessern, aber sie hatten zu Zeiten der Deutschen Bundesbahn keinen Erfolg.
 
 
0.2 Fragestellung und Vorgehensweise
 
Hier wird die Einführung der elektrischen Traktion auf den Strecken der Deutschen Bundesbahn vor allem unter technikgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht. Dabei geht es nicht darum, eine Aufzählung der elektrifizierten Strecken in ihrer zeitlichen Abfolge zu erstellen, sondern darum, die Strecken-Elektrifizierung als ein kompliziertes technisches System darzustellen, das mit der Bahnstromerzeugung im Kraftwerk beginnt und am Zughaken der Elektrolokomotive endet. Breite Anwendung erlangte dieses System in Deutschland erst nach 1945. Die Anfänge der elektrischen Eisenbahn reichen, wie in der Einführung schon erwähnt, bis ins 19. Jahrhundert zurück. Um 1900 wurden die wesentlichen Grundlagen, Entwicklungen und Entscheidungen festgelegt, die bis in die heutige Zeit nachwirken. Ich werde daher in Kapitel 1 auf die Zeit vor 1945 eingehen und die wichtigsten Entwicklungslinien bezogen auf das Stromsystem, den Elektrolokomotivbau und die Strecken-Elektrifizierung aufzeigen. Seit der ersten Elektrolokomotive von Werner Siemens stellte immer die Antriebsart, also die Kraftübertragung vom Elektromotor auf die Triebachsen, ein Hauptproblem im Lokomotivbau dar. Es wird dher auch bei meiner Darlegung besondere Beachtung finden.
 
Von der ersten Vorführung einer elektrisch betriebenen Eisenbahn 1879 bis zur breiten Anwendung des neuen technischen systems in Deutschland sind rund 90 Jahre vergangen. Ich bin in Kapitel 1 der Frage gefolgt, welche Gründe dafür ausschlaggebend waren und komme in dem Zusammenhang auf die politischen und wirtschaftlichen Hemmnisse zu sprechen.
 
Der Hauptteil meiner Arbeit beginnt mit einer allgemeinen Bestandsaufnahme im Eisenbahnbereich der drei Westzonen nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Die deutsche Teilung und das nur notdürftig instandgesetzte Eisenbahnnetz beeinflusste nachhaltig die Ausgangslage und Zukunftsaufgaben der im Jahr 1949 gegründeten Deutschen Bundesbahn. Anfang der 50er Jahre wurden die wichtigsten Entscheidungen für die nächsten Jahrzehnte getroffen. Sie betrafen vor allem den Ausbau eines elektrifizierten Streckennetzes. Auf die damalige Diskussion über Stromsysteme, Elektrifizierungspläne und Elektrolokomotivkonstruktionen gehe ich ausführlich ein und verfolge die daraus entwickelten Entscheidungen bis in die 70er Jahre hinein. Bei den elektrifizierten Strecken werden nur die wichtigsten Erweiterungen im Hinblick auf das Gesamtnetz darstellt.
 
Die Deutsche Bundesbahn ist als Staatsunternehmen über den Bundesverkehrsminister als ihrem obersten Dienstherrn den politischen Zielsetzungen der Bundesregierung sehr direkt ausgesetzt. Ziel der Verkehrspolitik war es immer, die Bundesbahn auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen. Im Interessenkonflikt mit anderen Ressorts und durch den Einfluss starker politischer und wirtschaftlicher Gruppen innerhalb und außerhalb des Parlaments sind positive Ansätze zur Gesundung der Bundesbahn nicht erfolgreich gewesen. Die Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (1949 – 1966) und Georg Leber (1966 – 1972) haben es nicht geschafft, die Bundesbahn aus den roten Zahlen herauszuführen. Deren unbefriedigende finanzielle Situation beeinflusste natürlich auch die geplante Modernisierung, die nur über Kredite von Bund und Ländern finanzierbar waren. Unter diesen Umständen war die Elektrifizierung nicht nur ein technisches sondern vor allem ein finanzielles Problem. Daher gehe ich in Kapitel 3 auf die Elektrifizierung der Deutschen Bundesbahn unter verkehrspolitischen Gesichtspunkten ein. Der Abschnitt beginnt mit einer kurzen Darstellung des Verkehrsmarkes, auf dem sich die Bundesbahn gegenüber ihren Konkurrenten behaupten musste.
 
Am Schluss meiner Arbeit steht eine abschließende Einschätzung der Elektrifizierung bei der Deutschen Bundesbahn und ihren Vorgängern, in der ich versuchen werden, die Ergebnisse meiner Untersuchung zusammenzufassen und zu interpretieren.
 
 
0.3 Eingrenzung
 
Wie schon angedeutet gehen die wichtigsten technischen Entwicklungen der elektrischen Eisenbahnen, auf die ich eingehen werde, bis ins 19. Jahrhundert zurück. Deren großangelegte Umsetzung erfolgte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Mein Hauptaugenmerk bei der Elektrifizierung liegt daher auf der Zeit von 1945 bis etwa Anfang der 70er Jahre.
 
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges machten neben den umfangreichen Aufbaumaßnahmen der Eisenahn auch eine völlig neue Anpassung an die veränderten Verkehrsverhältnisse nötig. Daraus resultiert die Entscheidung für einen Strukturwandel in der Zugförderung von Dampf- auf Diesel- und elektrischen Betrieb. (9) Das elektrifizierte Netz machte 1949, wie schon erwähnt, mit rund 1500 Kilometern nur ca. 5 Prozent der Gesamtstrecken in den drei Westzonen aus und konzentrierte sich auf den süddeutschen Raum um München. (10) Selbst diese kleine Netz musste nach Kriegsende zunächst an vielen Stellen repariert werden, bevor es elektrisch befahren werden konnte. (11)
 
Aus diesen kleinen Anfängen wuchs bis Anfang der 70er Jahre ein Netz von rund 9.000 Kilometern, mit dem 30 Prozent der gesamten Streckenlänge der Deutschen Bundesbahn elektrifiziert waren. Da es sich hierbei um nahezu alle Hauptstrecken mit hohen und mittleren Transportbelastungen handelte, entfielen auf die elektrische Zugförderung 73,3 Prozent der gesamten Förderleistung der Bundesbahn. Die entsprechende Vergleichszahl für das Jahr 1949 betrug nur 8,2 Prozent. Da die Diesellokomotive 1971 weitere 16 Prozent der gesamten Förderleitung erbrachte, blieb für die Dampflokomotiven nur noch ein Anteil von 10,7 Prozent übrig. (12) Damit war der 1950 eingeleitete Strukturwandel in der Zugförderung von Dampf- auf Diesel- oder elektrische Traktion weitgehend abgeschlossen. Der Elektrifizierungsplan von 1950 war schon übererfüllt und die Erweiterung des elektrischen Streckennetzes verliefen in den 70er Jahren auf niedrigem Niveau. Auf dem bestehenden Grundnetz konnte der IC-Verkehr mit elektrischen Lokomotiven ab 1971 aufgebaut werden.
 
Im Rahmen dieser Arbeit wird – von wenigen Ausnahmen in der Zeit um 1900 abgesehen – nur die Entwicklung der wichtigsten Elektrolokomotiven behandelt. Elektrische Triebwagen, die nur im Personenverkehr eingesetzt werden, habe ich nicht berücksichtigt. Für die Elektrifizierung gilt ähnliches. Hier behandle ich die elektrischen Lokal- und Stadtbahnen nicht. Bei den Zahlenangaben zur elektrischen Zugförderungsleistung und Streckenlängen werden Stadtbahnen, wie die Hamburger S-Bahn in den meisten Fällen mitgezählt.
 
 
0.4 Forschungslage
 
Über die Deutsche Eisenbahn gibt es eine Vielzahl von Publikationen zu den verschiedensten Themenbereichen. Ein Großteil der Literatur ist populärwissenschaftlich verfasst. Historiker haben sich vor allem mit der Eisenbahn im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unter sozial, wirtschafts- und technikgeschichtlichen Aspekten beschäftigt. (13) Untersuchungen zur neueren Geschichte der Eisenbahn gibt es kaum. Daran ändert auch das 150-jährige Eisenbahnjubiläum mit seinen vielen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt im Jahre 1985 nur wenig. In dem ansonsten sehr guten zweibändigen Werk zur Jubiläumsausstellung „Zug der Zeit – Zeit der Züge, Deutsche Bundesbahn 1835 – 1985“ findet der Leser zur Geschichte der Eisenbahn nach 1945 nur wenig. (14) Die gesamte Elektrifizierung, nicht nur der Deutschen Bundesbahn, wird nahezu vollständig ausgespart. Eine ausführliche Veröffentlichung zu diesem Thema fehlt bis heute. Dabei verdient die Elektrifizierung durchaus eine genauere Untersuchung von Historikern, wie sie für einen Teilbereich Hans-Peter von Peschke geschrieben hat. Unter dem Titel „Technischer Fortschritt – nicht gefragt“ behandelt er das Scheitern des ersten deutschen Schnellbahnprojektes im Kaiserreich. (15)
 
In den überblicksartigen Werken zur Eisenbahngeschichte finden sich nur kurze Kapitel zur Elektrifizierung. Zu diesem Thema fand ich auch in Publikationen anderer Wissenschaftsbereiche wie Wirtschaft oder Elektrotechnik wenig brauchbares Material. Ich konnte bei meiner technikgeschichtlich orientierten Arbeit auf zwei Monographien zurückgreifen, die – wenn auch unter anderen Gesichtspunkten – die Elektrifizierung der Deutschen Bundesbahn ausführlich behandeln. So schrieb Josef Wolf über „Die Elektrifizierung der Eisenbahn in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 in verkehrsgeographischer Sicht“ (16) und Alfred B. Gottwald über „100 Jahre deutsche Elektro-Lokomotiven“. (17) Zwar stehen bei dem letztgenannten Buch Bilddokumente im Vordergrund, doch werden sie durch einen ausführlichen und verständlichen Text ergänzt.
 
Da also nur sehr wenige Monographien sich eingehend mit der Elektrifizierung und deren Umfeld beschäftigen, musste ich hauptsächlich einschlägige Zeitschriften auswerten. Ich möchte hier nur die drei wichtigsten nennen: „Elektrische Bahnen“, „Elektrotechnische Zeitschrift“ und „Die Bundesbahn“. Hier finden sich zu vielen Teilproblemen der Elektrifizierung umfangreiche Artikel, die sehr ausführlich sind und bis ins kleinste technische Detail gehen.
 
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