Eisenbahnbauarbeiter im Vormärz

Erster großer Streik am Schildeschen Viadukt

Der Schildesche Viadukt 2014

Wie hinlänglich bekannt, begann 1835 in Deutschland die Zeit der Eisenbahn. Beim Bau der neuen Verkehrswege wurden in der Hochzeit des Streckenbaus tausende von Arbeitern beschäftigte. Nur den wenigsten Menschen ist heute bewusst, wie die Eisenbahnbauarbeiter lebten und arbeiteten. Noch weniger ist über ihre sozialen Proteste bekannt. Überhaupt wurde zu diesem Themen erst nach dem 2. Weltkrieg geforscht. Dabei taten sich besonders die Historiker der ehemaligen DDR hervor, die in den ersten Streiks der Bauarbeiter die Anfänge der Deutschen Arbeiterbewegung gesehen haben. Hier sind besonders Dieter Eichholtz und Eberhard Wolfgramm zu nennen, die sich der Erforschung der Unruhen unter den preußischen Eisenbahnbauarbeiter im Vormärz annahmen. In der Bundesrepublik untersuchte Wilhelm Wortmann die soziale Geschichte der Eisenbahnbauarbeiter.

Im 18. Jahrhundert war der Einsatz von Maschinen im Straßen- und Eisenbahnbau noch weitgehend unbekannt. So waren die Masse der Arbeiter im Streckenbau mit Erdarbeiten beschäftigt.

In der folgenden kleinen Geschichte zu den Eisenbahnbauarbeitern beziehe ich mich besonders auf den Bau der Köln-Mindener-Eisenbahn, die 1947 fertig gestellt wurde. Über diese Strecke liegen besonders vielen Quellen vor, zumal beim Bau des Schildeschen Viaduktes, der heute im Stadtgebiet Bielefelds liegt, der größte Eisenbahnstreik im Vormärz stattfand.

Die erste deutsche Eisenbahnstrecke

Das Zeitalter der Eisenbahn begann n Deutschland relativ spät im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Erst 1835 wurde die relativ kurze Strecke von Nürnberg nach Fürth mit 6 Kilometern Länge gebaut. England hatte 1825 bereits 44 Kilometer Eisenbahnstrecken zu verzeichnen. Ein Grund für den späten Start war im Deutschland der Kleinstaaten die Politik der Gebietskörperschaften, die eine Änderung der Handelsströme verhindern wollten. Die deutschen Staaten überließen in der Regel den Bau von Eisenbahnen privaten Gesellschaften, die das nötige Kapital über den Verkauf von Aktien aufbrachten. Das neue Verkehrsmittel rief schnell die Gesetzgeber auf den Plan. Für die Eisenbahngesellschaften war aber z. B. das preußische Eisenbahngesetz von 1838 ein Rückschlag. So konnte der Staat alle Risiken den Gesellschaften überlassen und ihnen zusätzlich noch finanzielle Verpflichtungen aufbürden. Auf der anderen Seite schaffte sich der Staat die Möglichkeiten, sich in viele Angelegenheiten der Eisenbahngesellschaften einzumischen.

Als ab 1840 deutlich wurde, dass die Eisenbahn ihren Siegeszug antreten würde, änderten sich die Handlungsweisen der Städte und Gemeinden. Jetzt versuchte jeder die Eisenbahnlinien in sein Gebiet zu ziehen, um nicht vom Handel abgeschnitten zu werden.

Folgende wichtige Strecken wurden bis 1850 gebaut:

1839 Leipzig – Dresden
1840 München – Augsburg
1841 Berlin – Anhalter Bahn
1843 Köln – Aachen
1844 Nürnberg – Bamberg
1846 Berlin – Hamburg
1846 Berlin – Breslau
1847 Köln – Minden
1849 Bergisch-Märkische Bahn

So hatte Deutschland 1850 hinter Großbritannien das längste Eisenbahnnetz in Europa mit 6044 Kilometern. Großbritannien verfügte über 10.652 Kilometer Schienenstränge. Von den Anfängen bis 1890 entwickelte sich das deutsche Eisenbahnnetz wie folgt weiter:

1840 = 540 km
1950 = 6.044 km
1860 = 11.633 km
1870 = 19.575 km
1880 = 33.838 km
1890 = 42.869 km

Die Eisenbahn konnte schnell dr Binnenschifffahrt Transportleistungen abnehmen. Zwischen 1840 und 1850 erhöhte sich der Anteil der Eisenbahn in der Transportleistung beider Verkehrsträge von 0,4 auf 25,1 %.

Von dem Boom im Eisenbahnbau konnte zunächst die ausländische Industrie profitieren, allen voran die englische. Von den bis 1850 verlegten Bahnschienen waren 75 % aus dem Ausland importiert. Ähnlich verhielt es sich ei den eingesetzten Dampflokomotiven. Die deutsche Industrie musste den englischen Technologie-Vorsprung zunächst aufholen. Die Entwicklung verlief allerdings recht stürmisch, was am Beispiel der Firma Borsig deutlich wird:

1836: August Borsig gründet eine Schlosserwerkstatt
1848: Bei Borsig sind 300 Menschen im Lokomotivbau beschäftigt
1858: Die ersten 1.000 Lokomotiven sind gebaut
1953: Die Hälfte aller preußischen Lokomotiven wurde von Borsig in Berlin gebaut

Solche Produktions- und Streckenbau-Leistungen erforderten einen hohen Kapitaleinsatz. Die Eisenbahnfinanzierung erfolgte durch bürgerliche Gewerbetreibende, die in der Lage waren, bis 1849 durchschnittlich 23 Millionen Taler pro Jahr zu investieren, was den vierten Teil der jährlichen Staatseinnahmen entsprach. Bis 1870 war es für Investoren profitabler, Eisenbahnaktien zu besitzen, als in anderen Industriezweigen Geld anzulegen. Alle deutschen Staaten haben bis 1850 mit etwa 150 Millionen Talern die Hälfte der Eisenbahn finanzieren.

Arbeitstechniken des Eisenbahnbaus

Zunächst wurde eine neue Strecke projektiert. Dabei war besonders wichtig, die größten Städte und Ortschaften zu erreichen. Die Strecke durfte dabei nur geringe Höhenunterschiede aufweisen. Große Umwege, etwa um Hügel oder Berge, waren zu vermeiden. Um die günstigste Streckenführung zu ermitteln, wurden Vermessungen entlang der möglichen Trasse vorgenommen. Hatte man sich auf eine bestimmte Line geeinigt, so wurde diese genau vermessen und alle Durchlässe, Brücken, Dämme oder Einschnitte geplant. Der Eisenbahnstreckenbau selbst war dann Handarbeit. Den größten Anteil stellten dabei die Erdarbeiten. Das dafür benötigte Kleingerät mussten die Arbeiter selbst mitbringen. Dabei handelte es sich um Schaufel, Hacke und Zottel zum Ziehen einer Karre. Auch das Pulver für Sprengungen musste oft durch die Bauarbeiter besorgt werden. Das Großgerät wie Karren und Transportwagen wurde von der Eisenbahngesellschaft oder beauftragten Unternehmern gestellt. Mit diesen einfachen Arbeitsmitteln wurden Hügel abgetragen oder durchschnitten, Aufschüttungen und Dämme angelegt oder Material zum Brückenbau herangeschafft. Da es noch keine Stahlbrücken gab, entstanden die Brücken und Durchlässe aus Steinen. Für die Schalungen der Brückenbögen und für die Gerüste an den Bauwerken brauchten die Brückenbauer eine Menge Holz, das ebenfalls herangeschafft werden musste.

Der Brücken- und Gebäudebau war der zweite große Bereich, wo Handarbeit gefragt war. Die Gebäude waren zunächst nicht so groß wie wir sie heute kennen. Jedoch die Steinbrücken waren oft imposante Bauwerke. Als Beispiele seien hier genannt:

Viadukt in Schildesche bei Bielefeld
Viadukt bei Altenbeken
Erste Weserbrücke bei Rehme (Bad Oeynhausen)
Göltschtalbrücke bei Reichenbach
Elstertalbrücke bei Reichenbach

Außer der Menschkraft standen Pferde und Rinder zum Ziehen der Materialwagen zur Verfügung. Einfache Flaschenzüge benutzen die Bauarbeiter und Zimmerleute im Brücken- und Gebäudebau. Für diese Arbeiten brauchten die Eisenbahngesellschaften über Jahre hunderte von Menschen.

Herkunft der Eisenbahnbauarbeiter

In den Jahren des Eisenbahnbooms in Westfalen war die Lage der unteren Bevölkerungsschichten auf dem Land äußerst schlecht. Gleich mehrere Ursachen sind hierfür zu nennen. Viele Kleinbauern und Heuerlinge waren durch die Agrarreform in Preußen in ihrer Existenz bedroht. Die Landarbeiter, die durch Weben von Leinenstoffen ihr Einkommen aufbesserten oder überwiegend als Leineweber arbeiteten, verloren durch sinkende Preise und Verlust von Absatzmärken für Garn und Leinen ihre Arbeit. Missernten verschärften die Lage zusätzlich. So standen den Eisenbahngesellschaften entlang der Strecke durch Westfalen tausende von Arbeitskräften zur Verfügung, die nur durch die Beschäftigung beim Bahnbau sich und ihre Familien ernähren konnten. Allein im Jahr 1846 waren bei Erdarbeiten 178.000 Menschen beschäftigt. Dazu kamen die Handwerker bei Kunstbauten und Bahngebäuden. Die Beschäftigungsmöglichkeiten locken sogar Wanderarbeiter an. Ihr Anteil an den Eisenbahnbauarbeitern betrug zwischen 10 und 15 Prozent.

Leben und Arbeiten der Eisenbahnbauarbeiter

Wenn der Bau eine neue Strecke angefangen wurde, so kamen Arbeitswillige oft schon Tage vorher zu den Baustellen, um sich um eine Arbeitsstelle zu bewerben. Dabei kam es oft zu Unruhen, wenn die Arbeiter nicht eingestellt wurden. Die abgewiesenen Arbeiter richteten dabei ihre Wut gegen Eisenbahnbeamter oder die Polizei. Es wurden aber auch Wanderarbeiter von der ortansässigen Bevölkerung, die ebenfalls nach Arbeit anstand, angegriffen und verjagt. Die Arbeiter wurden nicht direkt von den Beamten der Eisenbahngesellschaften eingestellt, sondern von so genannten Schachtmeistern. Diese Leute waren Kleinunternehmer, die bestimmte Bauarbeiten für die Eisenbahngesellschaften mit eigenen Beschäftigten durchführen sollten. Die Arbeit wurde im Akkordlohnsystem bezahlt. Dieses Beschäftigungsmodell war für die Gesellschaften besonders günstig, da keine Kosten für die Betreuung und Beaufsichtigung der Arbeiter anfielen. Der Lohn richtete sich nach dem Angebot von Arbeitskräften und dem regionalen allgemeinen Lohnniveau. Die Arbeiter waren im Akkordlohnsystem bestrebt, durch schnelles Arbeiten einen möglichst hohen Verdienst zu erzielen. Es war den Beschäftigten ja auch klar, das die Arbeit nur für einen begrenzen Zeitraum und nicht dauerhaft vergeben wurden. So wurde im Sommer 14 bis 15 Stunden pro Tag gearbeitet. Die Berechnung der ausgezahlten Gelder erfolgte nach der Menge des bewegten Bodens, der Länge der Transportwege, der Bereitstellung der Transportmittel und lag darüber hinaus im Ermessensspielraum des Eisenbahnbeamten. Die Gelder wurden dann wiederum vom Schachtmeister nach der jeweiligen Arbeitsleistung der Arbeiter verteilt. Dabei erfolgte die Auszahlung an die Arbeiter wöchentlich oder vierzehntägig. Wie die Notlage der Arbeitskräfte ausgenutzt wurde, zeigt die Lohnentwicklung. Ende 1830 wurden durchschnittlich 20 Silbergroschen in Preußen gezahlt. In den 40er Jahren waren es nur noch 15 bis 17 Silbergroschen. Da die meisten Arbeiter aus der näheren Umgebung der Bahntrassen stammten, änderte sich der Arbeitsweg mit dem Verlegen der Baustelle. Solange wie möglich wanderten die Arbeiter jeden Tag bis zu 10 Kilometer nach Hause. Wenn der Weg zu lang wurde, hatten die Beschäftigten unter den Wucherpraktiken der Gastwirt und Schlafstellenvermittler zu leiden. Dabei waren die Unterkünfte sehr primitiv. Als Schlafstätten wurden entlang der Strecke vorhandene Scheunen, Dachböden, Dachkammern oder Hütten genutzt. Da die Menschen dort eng zusammengepfercht leben mussten, wurden sie schnell von Ungeziefer aller Art befallen.

Einen erheblichen Teil des Geldes gaben die Eisenbahnbauarbeiter in ihrer Freizeit für Glückspiel du Branntwein aus. Dieses Verhalten war allerdings nicht bezeichnend für die Arbeiter im Eisenbahnbau, sondern eher eine allgemein verbreitete, schon fast als traditionelle zu bezeichnende Verhaltensweise. Für die Ordnungskräfte ergaben sich aus der Vergnügenssucht und auch Prostitution keine großen Probleme. Beim Alkoholmissbrauch durch Brandwein so das schon anders aus, denn das Arbeiten war besonders an Kunstbauten wie Brücken und Viadukten sehr gefährlich. Allein bei der Göltzschtalbrücke in Thüringen kamen 31 Arbeiter ums Leben. Im Jahre 1850 fand jeder 75. Arbeiter auf einer Baustelle den Tod. Natürlich gab es auch viele Verletzte, um die sich später keiner kümmerte. In Preußen wurde erst 1846 durch Gesetz eine Arbeiterkrankenkasse vorgeschrieben, in die jeder Arbeter 1 bis 2 Pfennig pro Tag zahlen musste. Die Eisenbahngesellschaften verwalteten das Geld. Wer vor seiner Krankmeldung entlassen wurde, erhielt keinen Pfennig aus der Kasse.

Die Arbeiter aus dem Umfeld der Strecken waren oft die schwere körperliche Arbeit nicht gewöhnt, da sie zuvor als Weber oft den ganzen Tag vor ihrem Webstuhl sitzen mussten. Sie waren körperlich schnell geschwächt und damit besonders anfällig für Krankheiten.

Die Wanderarbeiter kamen oft ohne Geld an den Baustellen an und mussten sich die ersten Silbergroschen für Unterkunft und Verpflegung von den Schachtmeistern leihen. Er verkaufte seinen neuen Beschäftigten dann Lebensmittel und Branntwein zu überhöhten Preisen, so dass die Arbeiter am ersten Zahltag oft nur ihre Schulden bezahlen konnten. Damit blieben sie in der Folgezeit vom Schachtmeister abhängig.

So wichtig wie die Schaufel oder Hacke war auch das Legitimationspapier für Arbeiter. Das Papier wurde vom Amt im Heimatdorf oder –Stadt ausgestellt und an der Baustelle der Polizei übergeben. Dafür gab es im Gegenzug einen Arbeitsschein, den die Arbeiter immer bei sich zu tragen hatten. Für Auswärtige bestand Passpflicht.

Der Schachtmeister

Zwischen Eisenbahnbauarbeiter und Eisenbahngesellschaft nahm der Schachtmeister eine besondere Stellung ein. Er hatte die Aufgabe, als Subunternehmer die Arbeiter einzustellen. Außerdem kontrollierte er die Anwesenheit und Arbeitsleistung. Auch die Entlohnung war seine Aufgabe. In der ersten Phase bis 1840 wurde der Schachtmeister wahrscheinlich von einer Gruppe von Arbeitern gewählt. Später suchte der Schachtmeister seine Leute selbst aus. Jeder Schacht bestand aus 40 bis 200 Männer. Da jeder Arbeiter dem Subunternehmer 6 Pfennig pro Woche zahlen musste, kam er mit seinem eigenen Verdienst – erst musste er selbst mitarbeiten – auf einen Lohn, der drei- bis viermal höher lag, als der Lohn seiner Arbeiter. Die Schachtmeister an der Köln-Mindener-Bahn schenkten täglich an ihre Leute ein Glas Branntwein aus. Ob er getrunken wurde oder nicht, am Zahltag zog der Schachtmeister den Tunk vom Lohn ab. An anderen Strecken kam es vor, dass Lohnanteile in Naturalien ausgegeben wurden. Neue Arbeitssuchende mussten für den Schachtmeister oft tagelang zur Probe umsonst arbeiten.

Zu den Vorgesetzten der Eisenbahnbauarbeiter gehörte neben dem Schachtmeister auch der Aufsichtbeamte. Er war Angestellter der Eisenbahngesellschaft, aber auch dem Landrat unterstellt. Damit reichte der Einfluss des Staates bis in den Baustellenbetrieb hinein. Der Aufsichtsbeamte führte Arbeitskontrollen und Polizeifunktionen aus.

Arbeiterunruhen

An fast allen Eisenbahnstrecken kam es zu Protesten, deren Ursachen nahezu ausschließlich in der Bezahlung lagen. Die Unruhen gingen im Kern dabei immer vom Schacht aus, der das Grundelement des Protestes zu sehen ist. So blieb die Zahl der Protestierenden meist bei unter 200 Arbeitern. Außerdem waren die ersten Proteste spontan und von kurzer Dauer. Die Proteste klangen auch dadurch schnell ab, weil der Zahltag immer auf einen Samstag viel. Gerade bei den Zahlungen konnten die Arbeiter sich ungerecht behandelt fühlen. Da ein Feiertag dem Zahltag folgte, war eine Arbeitsniederlegung als Protest nicht leicht zu organisieren. Es war nur eine kurze Arbeitsniederlegung sofort oder dann erst in der folgenden Woche möglich. Ein Großteil der Arbeiter machte sich nach der Zahlung des Lohns auch sofort auf den Weg in ihre Heimatdörfer. So war es am Montag nicht so leicht, genug Arbeiter für eine Arbeitsniederlegung zu gewinnen, denn die erste Wut über eine ungerechte Bezahlung war dann schon verflogen. Es scheint allerdings ein Protest oft zu schnellen Erfolgen geführt zu haben, denn die Unruhen waren von kurzer Dauer. Für die schnelle Aufgabe von Protesten der Arbeiter waren jedoch auch Vermittlungsgespräche staatlicher Beamte auszumachen. Allerdings gab es auch die härtere Variante der staatlichen Einflussnahme. So wurden die protestierenden Arbeiter durch militärische oder polizeiliche Machtdemonstrationen eingeschüchtert.

Der Lohnprotest lief zumeist an den Strecken ähnlich ab: Zunächst kam es bei der Lohnauszahlung zu verbalen Beschwerden. Dann folgte sofort eine Arbeitsverweigerung, die häufig von Tumulten begleitet war. In der Zeit vom Frühjahr 1844 bis zum Herbst 1847 gab es etwa 30 Arbeitskämpfe mit Arbeitsniederlegungen und Aktionen der Eisenbahnbauarbeiter gegen Vorgesetzte oder Sachmittel. Höhepunkt war der Julistreik 1845 von rund 2000 Arbeitern an der Baustelle des Schildeschen Viaduktes bei Bielefeld. An diesem Beispiel für Arbeiterunruhen werden die wichtigsten Streitobjekte und Vorgehensweisen der Arbeiter deutlich. Sie sind daher auf andere Arbeitskämpfe im Eisenbahnbau übertragbar. So lagen die Ursachen für den sozialen Protest in der als zu gering empfundenen Entlohnung, der Konkurrenz unter den Arbeitergruppen, den Auswirkungen der harten Arbeit und im Verhalten der Vorgesetzten gegenüber den Arbeitern. Auch die Reaktionen der staatlichen Stellen sind beispielhaft.

Der Streik am Schildeschen Viadukt

In die deutsche Sozialgeschichte ist der Streik an der Köln-Mindener-Eisenbahnstrecke bei der kleinen Ortschaft Schildesche bei Bielefeld als „Tumult am Schildeschen Viadukt“ eingegangen. Dort wurde ab August 1844 der Bau des schönsten und größten Bauwerks an der Strecke eingeleitet. Die Eisenbahnstrecke quert das Tal des Johannisbaches auf einer Länge von 360 Metern bei einer Höhe von 18 Metern auf einem Viadukt aus Muschelkalk mit 28 Bögen. Dort legten rund 2000 Arbeiter die Arbeit nieder. Damit gilt er als erster großer Streik in Deutschland.

Über das auslösende Moment der Tumulte am 10. und 11. Juli 1845 gibt es unterschiedliche Annahmen. Als Ursachen werden in den Quellen genannt:

- Die Lohnerwartungen der Arbeiter wurden nicht erfüllt. Sie sollten 15 Silbergroschen mehr bekommen. Viele bekamen aber nur 12 Silbergroschen mehr

- Ein Schachtmeister, der entlassen von der Eisenbahngesellschaft werden sollte, wiegelte die Arbeiter auf.

- Erdarbeiter, die für weniger Lohn arbeiten wollten als die bisherigen Arbeitskräfte, sollten eingestellt werden.

Am 10. Juli, einem Zahltag, stellten zunächst mehrere Schächte die Arbeit ein. Sie versuchten Arbeitswillige durch Gewalt auf ihre Seite zu ziehen. Dabei kam es zu Schlägereien unter den Arbeitern. Die Aufforderung von zwei Gendarmen zur Ruhe, damals war Ruhe die erste Bürgerpflicht, wurde nicht Folge geleistet. Die Beamten wurden sogar verhöhnt und mit einem Stück Erde oder einem Stein beworfen. Die Polizei nahm einen Arbeiter trotz der widrigen Umstände fest, wobei der Anführer von den Streikenden wieder befreit werden konnte. Ein Arbeiter, der den Gendarmen einen Strick zum binden des Arbeiterführers übergeben hatte, wurde von den Streikenden misshandelt. Auch ein Bahnaufseher wurde verfolgt und wurde trotz Gegenwehr mit Pistole und Säbel geschlagen.

Am nächsten Tag zog eine aufgebrachte Menge vor das Haus des Amtmannes von Schildesche, der 800 neue Erdarbeiter der Eisenbahngesellschaft angeboten hatte, die nur noch für die Hälfte des Lohns arbeiten wollten. Zu seinem Glück war der Amtmann nicht zu Hause. Doch die Streikenden drangen in sein Haus ein und demolierten die Inneneinrichtung. Danach wurde dem Landrat in Bielefeld der Fall bekannt gemacht und die staatlichen Stellen forderten militärische Unterstützung an. Der Landgrat machte sich sofort auf den Weg nach Schildesche und auch Soldaten marschierten aus der Kaserne zum Ort der Unruhen aus. Der Landrat konnte die Lage am Viadukt beruhigen. Das Militär zog mit geladenen Gewehren zur Baustelle. Von dort waren aber schon viele Streikende und deren Anführer geflüchtet. Die Soldaten rückte in den Ort Schildesche ein. Eine Gerichtsdeputation verhaftete dann unter dem Schutz des Militärkommandos 75 Personen. Davon wurden später 23 zu einer Strafe verurteilt. Die Mehrzahl kam mit einigen Wochen Gefängnis davon. Die höchste Strafe betrug allerdings fünf Jahr Zuchthaus.

Wenn auch die Arbeitsniederlegung und die Taten in diesem Zusammenhang für die einige Arbeiter bestraft worden ist, so gab es auch positive Ergebnisse zu vermelden. So wurde den Arbeitern Lohn nachgezahlt und sie wurden nach einigen Tagen wieder engestellt. Die „ausländischen Arbeiter“ wurden nicht eingesetzt. Die ortsansässigen Männer behielten ihre Verdienstmöglichkeit. So haben die landlosen Kleinbauern und Weber aus Schildesche maßgeblich den Bau des Viaduktes durchgeführt.

Die Köln-Mindener-Eisenbahntrasse vor dem Schildeschen Viadukt 2014

Auswirkungen der Eisenbahnunruhen

Beim Eisenbahnbau wurden, abgesehen von kriegerischen Anlässen, erstmals tausende von Menschen aus ihrem vertrauten Milieu gerissen und mussten in großen Gruppen zusammen arbeiten. Die Menschen wählten diesen Weg nicht freiwillig. Sie gingen in die neuen Arbeitsverhältnisse, um der Not durch die Krise in der Leinenproduktion und der Landwirtschaft zu entgehen. Dabei wurden sie durch die Struktur der Schächte mit den Subunternehmern als verlängerter Arm der Eisenbahngesellschaften bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausgebeutet. Dieses Schicksal kannten sie schon als Einzelperson in den oben genannten Bereichen. Jetzt aber erlebten sie die harten Arbeitsbedingungen und den geringen Verdienst in einer Gruppe, dem Schacht. Was diese gemeinsame Erfahrung für die Zeit vor 1848 bedeutete, wird in einem Zitat aus der Zeitschrift „Vorwärts“ deutlich. Dort steht in dem Artikel „Schlesische Zustände“ 1844: „Einen Vorteil hat´ s für uns. Wir sind zu tausenden zusammengeströmt, haben einander kennen gelernt, und in dem gegenseitigen langen Verkehr sind die meisten von uns gescheiter geworden. Es sind nur noch wenige unter uns, die an die alten Faxen glauben. Wir haben jetzt verteufelt wenig Respekt mehr vor den vornehmen und reichen Leuten.“ Die Erfahrungen mit den Institutionen des Staates, die auf der Seite der Besitzenden gegen die Arbeiter mit Gewalt vorging, führten letztlich auch mit zur Revolution von 1848 in Deutschland. 

Literaturverzeichnis

Berghaus, Erwin: Auf den Schienen der Erde. Eine Weltgeschichte der Eisenbahn, München 1960

Borchardt, Kurt: Die industrielle Revolution in Deutschland, München 1972

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Fremdling, Rainer: Eisenbahn und deutsches Wirtschaftswachstum 1840 – 1879, Münster 1974

Frick, Axel: Als in Schildesche die Erde bebte, Die Geschichte des Viaduktes, Leopoldshöhe 1994

Husung, Hans-Gerd: Eisenbahnarbeiter im Vormärz: Arbeitsformen und Konfliktmuster, in: Langewiesche, Dieter; Arbeiter in Deutschland, Schöningh 1981

Koselleck, Reinhart: Staat und Gesellschaft in Preußen 1815 bis 1848; in: Wehler, Hans Ulrich (Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte, Klön 1966

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Steitz, Walter: Die Entstehung der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft, Köln 1973

Wagenblass,Horst: Der Eisenbahnbau und das Wachstum der deutschen Eisenbahn- und Maschinenbauindustrie 1835 bis 1860, Stuttgart 1973

Wolfgramm, Eberhard: Die sozialökonomischen Kämpfe der Eisenbahnarbeiter in Sachsen 1844 – 48, in: Aus der Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin (Ost) 1964

Wortmann, Wlhelm: Eisenbahnbauarbeiter im Vormärz, Sozialgeschichtliche Untersuchung der Bauarbeiter der Köln-Mindener Eisenbahn in Minden-Ravensberg 1844 – 1847, Köln 1972

Hinweis

(Leicht überarbeitete eigene Hausarbeit zum Kurs "Sozialer Protest" bei Josef Mooser und Peter Spahn. Vorgelegt im Sommersemester 1982 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld)

Letzte Änderung auf dieser Seite am 11.04.2015.

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